„Alles lieber als der Status Quo“
- Nikolai Klimeniouk
- 24. Feb.
- 6 Min. Lesezeit
Der ukranische Journalist Stanislaw Assejew war in russischer Isolationshaft. Er sieht die Ukraine am Ende ihrer Kräfte. Mit Donald Trump könnte sich die Situation noch weiter verschlechtern.
Veröffentlicht in: FAS, 23.02.2025

Der ukrainische Schriftsteller und Journalist Stanislaw Assejew berichtete seit 2014 über den Krieg im Osten der Ukraine. Bis er von prorussischen Kräften festgenommen wurde und fast zweieinhalb Jahre in Gefangenschaft verbrachte. Den Großteil dieser Zeit war er in der „Isolation“ inhaftiert: einer Haftanstalt auf dem Gelände einer ehemaligen sowjetischen Isolatorenfabrik, die vor der russischen Besetzung als Zentrum für zeitgenössische Kunst diente. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustauschs im Dezember 2019 hielt er seine Erlebnisse zuletzt im Buch „Heller Weg, Donezk: Bericht aus einem Foltergefängnis“ fest. Mit Beginn der groß angelegten Invasion trat er der ukrainischen Armee bei, wurde zweimal im Einsatz verwundet, schied aus dem Militärdienst aus und engagiert sich seither als Autor und Aktivist für die Aufklärung und Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen.
Die USA und Russland verhandeln gerade über die Ukraine, die Europäer und die Ukraine kommen kaum zu Wort. Was halten Sie davon?
Es ist schwierig, etwas Konkretes zu sagen, weil sich buchstäblich jeden Tag alles ändert. Aber generell würde ich es wahrscheinlich positiver sehen, dass Trump jetzt Präsident ist, als wenn es die Demokraten wären. Denn mit den Demokraten hätten wir immer noch den Status Quo und würden das tun, was wir bisher getan haben, mit katastrophalen Folgen für uns. Unser Land kann sich keine weiteren drei Jahre Krieg in diesem Tempo leisten. Es geht nicht um Geld oder Waffen, es geht um Menschen. Die gehen uns aus. Und wir werden müde. Mit Trump könnte sich die Situation für uns zum Schlechten wenden, aber so oder so wird es eine Kehrtwende geben.
Wie schätzen Sie die Stimmung in der Ukraine ein? Wie äußert sich die Kriegsmüdigkeit, von der Sie sprechen?
Wir haben eine ganze Armee von Deserteuren, über 110.000 Personen, und das ist nur die offizielle Zahl. Das spiegelt den moralischen und psychologischen Zustand der Armee wider. Warum ist das so? Weil die Mobilisierung gescheitert ist. Wir können die Leute, die nach drei Jahren an der Front erschöpft sind, nicht ersetzen. Ein Deserteur in der Ukraine ist niemand, der heute an die Front geht und morgen wieder abhaut. Das ist jemand, der vielleicht drei Jahre gekämpft hat, vielleicht sogar seit 2014 in der Armee ist, 150 Gefechte hinter sich hat und beim 151. sagt: Das war’s, ich bin fertig.
Wenn Sie von einem Scheitern der Mobilisierung sprechen – was genau meinen Sie damit?
Wir können nicht genug Leute rekrutieren, um diejenigen zu ersetzen, die seit Jahren an der Front sind. Das heißt, wir rekrutieren gerade mal so viele, dass die Front nicht zusammenbricht. Jeden Tag haben wir Verluste - Verwundete und Gefallene - und die müssen ersetzt werden. Und es gibt keine Rotation. Meine Einheit wurde für zwei Tage von der Stellung bei Pokrowsk abgezogen, und dann waren wir wieder an der Front. Dass eine ganze Brigade für ein oder zwei Monate abgezogen wird, um sich zu erholen, das gibt es einfach nicht mehr.
War das schon mal besser?
Jeder versteht, dass dies nicht dieselbe Armee ist, die sie 2022 war. Wir haben jetzt sowjetische Zustände: die alte Kommandovertikale, Logbücher, Berichte, Papierkram, die Jagd nach Dienstgraden und danach, möglichst weit von der Front entfernt zu sein. Die horizontale Ebene wurde völlig ausgelöscht. Jetzt gibt es eine starre, absolut idiotische Vertikale von Leuten mit sowjetischer Ausbildung – und oft ohne Kampferfahrung.
Ist die Ukraine ihrem Feind ähnlicher geworden?
Ja! Russland hat eine große sowjetische Armee plus Nordkoreaner, und wir haben eine kleine sowjetische Armee. Aber sie haben auch von uns gelernt, einige Dinge von uns übernommen, vor allem im Bereich der Drohnen. Die Russen fangen an, dieser Sowjetunion ein wenig IT-Technologie hinzuzufügen, eine gewisse Flexibilität. Und wir gehen den umgekehrten Weg. Wir haben all das verloren, was im Jahr 2022 großartig war und weshalb wir Russland in den Hintern getreten haben. Wir halten immer noch durch, aber nur dank des ewigen „Vorwärts, vorwärts, keinen Schritt zurück!“.
Würde der Wechsel der politischen Führung daran etwas ändern? Was halten Sie von der Idee, bald Neuwahlen durchzuführen?
Zum Ende des Jahres wäre das meiner Meinung nach möglich. Wir brauchen eine neue politische Führung. Präsident Selenskyj hat sich mit Leuten umgeben, von denen er glaubt, dass sie für das Überleben der Ukraine unersetzlich sind, dabei haben sie eine Vertikale der Korruption geschaffen. Die Zivilgesellschaft schreit von allen Seiten dagegen auf, aber er hört uns nicht. Allerdings müssen wir als Erstes die heiße Phase des Krieges beenden und die Linie, wo jetzt die Front verläuft, sichern. Dazu bräuchten wir Friedenstruppen, westliche Soldaten, eine Garantie, dass Russland morgen nicht wieder angreift. Es ist eine sehr schlechte Lösung, aber sie ist besser als alle anderen Varianten, die wir im Moment haben. Ich sehe im Moment keine militärischen Möglichkeiten, nicht einmal an die Grenzen von 2022 zurückzukehren.
Was würde das für die Menschen auf den besetzten Gebieten bedeuten?
Es wird genauso sein, wie das, was wir seit 2014 in Donezk und anderen besetzten Gebieten erlebt haben. Seit 2014 ist Russland überall absolut systematisch vorgegangen. Wo wir unser Gebiet 2022 befreit haben, war es überall dasselbe: Stromfolter, Keller, Hunger, sexuelle Gewalt. All dies wird getan, um den nationalen Widerstandswillen zu brechen, damit die Menschen in der Ukraine ihren Repräsentanten an der Macht sagen: Verhandelt um jeden Preis, nur damit dieser Albtraum ein Ende hat. Sie machen das, um zu zeigen, dass es unmöglich ist, Russland zu bekämpfen, dass es unmöglich ist, ihm zu widerstehen.
Sie waren 2014 in Donezk, als dort der sogenannte „russische Frühling“ ausbrach. Wie haben Sie das erlebt?
Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass so etwas möglich war. Ich hatte 2012 gerade mein Masterstudium abgeschlossen und lief noch mit einer Studentenmappe durch die Straßen von Donezk, und es gab Prozessionen von Buddhisten, die durch dieselben Straßen zogen. Donezk war ein religiöses Zentrum, es gab sehr viele verschiedene Konfessionen. Es war auch ein wirtschaftliches Zentrum, es gab viel Geld, es war eine Stadt der Kultur und der Wissenschaft. Und das ist auf einmal zusammengebrochen. Es gab dort sicherlich pro-russische Stimmungen, aber keinen Separatismus, davon war überhaupt nicht die Rede. Die Russen wurden mit Bussen zu den separatistischen Kundgebungen gebracht. Als bei der ersten separatistischen Kundgebung am 1. März Leute mit Fahnen der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk auftauchten, wussten wir nicht einmal, was das war. Was danach kam, war die russische Okkupation, es hieß nur anders.
Wie lange hat es gedauert, bis sich das Leben in Donezk halbwegs normalisiert hat?
Etwa zwei Jahre, nachdem die Kämpfe aufgehört haben, und die Wasserversorgung und die Heizung wieder funktionierten. Donezk hat alles, was ein friedliches Leben ausmacht, sogar eine steinerne Uferpromenade, auf der Mütter mit kleinen Kindern im Kinderwagen spazieren gehen. Und drei Kilometer entfernt eine unterirdische Welt namens „Isolation“. Die meisten wissen nichts von diesem Foltergefängnis. Die Verwaltung der „Isolation“ hat sich damit gebrüstet, dass nicht einmal Busse in der Nähe halten.
Dort waren Sie von August 2017 bis Oktober 2019 inhaftiert. In Ihrem Buch „Heller Weg“ schreiben Sie, dass es für eine Verurteilung ausgereicht hätte, „Volksrepublik Donezk“ in Anführungszeichen zu setzen. Wie wurde diese Härte begründet?
In der „Isolation“ gab es nicht nur Anhänger der Ukraine, sondern auch Leute, die für Russland gekämpft haben und dann in Ungnade gefallen sind, darunter ein Major und sogar ein General. Ein Ermittler hat mir gesagt: Du kannst froh sein, dass du 2017 verhaftet wurdest, 2014 hätten wir dich einfach erschossen. Mein Prozess war natürlich eine komplette Inszenierung. Bei den Paragrafen „Spionage“, „Extremismus“, „Terrorismus“, bei all den politischen Paragrafen, unter denen die Leute verurteilt werden, ist der einzige Ausweg der Austausch. Sie verhängen wahnsinnige Strafen ab 12 Jahren, man wird sofort vom Obersten Gericht verurteilt, man kann nirgendwo Berufung einlegen, denn das ist schon die höchste Instanz. Die Verhandlung hat 30 Minuten gedauert, ich habe mich schuldig bekannt, sonst hätten sie mich zurück in die Folterkammer geschickt.
Gibt es in den besetzten Gebieten eine Rechtsordnung, irgendwelche Regeln, die man befolgen muss, um nicht in einem solchen Foltergefängnis zu landen?
Schweig, halte den Kopf unten, misch dich nicht ein, diskutiere nicht über Politik, nicht einmal mit deinen Nächsten. Zeige nicht, wo du politisch und sozial stehst. Am besten gehst du schweigend zur Arbeit in irgendeinem Lebensmittelladen. Und wenn du irgendwo Anführungszeichen setzt, gibt es spezielle Agenten, Leute, die alles überwachen.
Wie kann man in einer solchen Situation seine Würde bewahren?
Das geht gar nicht. Joseph Brodsky hat das in seinem Essay „Less Than One“ gut beschrieben. Selbst die Leute aus der sowjetischen Intelligenz, die versuchten, sich anzupassen, und dachten, sie könnten das System irgendwie austricksen, machten nicht einmal einen Kompromiss mit ihrem Gewissen, sondern wurden einfach so wie die anderen. Wenn man in einem solchen System lebt und denkt, dass in zwei oder drei Jahren vielleicht alles besser wird, ist es unwahrscheinlich, dass man derselbe Mensch bleibt, der man vorher war. Ich muss es den Europäern immer wieder erklären. Sie hören Russland und denken an Kultur, Ballett und Tschaikowski – und können sich nicht vorstellen, dass Russland Konzentrationslager baut.