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Aus dem Wörterbuch der Diktatur

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 12. Dez. 2021
  • 6 Min. Lesezeit

Die Yukos-Methode: Das System der Repression in Russland ist perfide. Das ganze Ausmaß zeigt der Fall von Sergej Sujew, dem inhaftierten Rektor der Universität „Schaninka“.

Veröffentlicht in: FAS, 12.12.2021


Screenshot FAZ.net

Professor Sergej Sujew ist Rektor der „Schaninka“, einer der wenigen russischen Privatuniversitäten. Er ist 67 Jahre alt, herzkrank, und er sitzt im Gefängnis. Verurteilt ist er nicht. Verbrochen hat er auch nichts. Als er im Oktober festgenommen wurde, erschütterte das die Öffentlichkeit weit außerhalb der akademischen Kreise. Zunächst wurde Sujew nach einer spektakulären Festnahme im Krankenhaus unter Hausarrest gestellt, wenig später musste er nach einem 36-stündigen Verhör erneut ins Krankenhaus und wurde am Herzen notoperiert. Das war seine dritte Operation in diesem Jahr, er hat lebensgefährliche Gefäß- und Kreislaufprobleme. Nach öffentlichem Protest, zahlreichen Artikeln, offenen Briefen und Anfragen einiger Duma-Abgeordneter an die Staatsanwaltschaft wurde Sujew nicht, wie gefordert, freigelassen, sondern in ein Untersuchungsgefängnis überstellt.

In Russland ist man an vieles gewöhnt, doch selbst nach dortigen Maßstäben steht die demonstrative Härte der Repressalien in keinem Verhältnis zu den erhobenen Vorwürfen: Sujew sei in die Veruntreuung von Förder- und Forschungsmitteln in Höhe von etwa 250.000 Euro involviert. Doch geht es in Wirklichkeit gar nicht um Sujew. Der gesundheitlich angeschlagene Hochschulleiter wird offenbar gezwungen, die ehemalige Vize-Bildungsministerin Marina Rakowa zu belasten, eine energische junge Frau, die eine beachtliche Beamtenkarriere absolvierte und dabei einigen mächtigen Leuten in die Quere kam. Sujew bestreitet alle Vorwürfe und macht nicht mit.


Der Fall von Sujew und Rakowa ist in Russland gerade ein großes Thema. Während Russland mit militärischen Drohgebärden internationale Spannungen erzeugt, bieten sich hier tiefe Einblicke in die Abläufe im Inneren des Landes. Vieles ist an diesem Fall typisch: Ein unbescholtener Bürger wird wie ein Schwerverbrecher behandelt, während zuvor nichts auf diese Attacke hingedeutet hat – weder ist Sujew politisch aktiv, noch ist er in irgendwelche Interessenkonflikte verwickelt. Selten allerdings läuft das Zusammenspiel von repressiven Praktiken, gesellschaftlichen Tendenzen und Besonderheiten des Staatsapparats so umfassend ab, dass es diesen Fall fast schon zur Enzyklopädie der russischen Diktatur macht.


Marina Rakowa ist 38 Jahre alt und verkörpert auf den ersten Blick die neue Bürokratie, wie sie das Regime gern hätte: ausgebildet in Russland, effizient, loyal, fern der Politik, nicht mit irgendwelchen Macht- oder Business-Clans verbunden und erpicht darauf, das Land technologisch voranzutreiben. Seit Jahren wird versucht, solchen Verwaltungsnachwuchs in extra dafür gegründeten Kaderschmieden großzuziehen oder über Spezialprogramme zu rekrutieren. Geboren in einer sibirischen Kleinstadt, absolvierte Rakowa mit nur neunzehn Jahren die technische Bauman-Universität in Moskau, kehrte in ihre Heimatregion zurück und studierte dort an der Akademie für Recht und Wirtschaft. 2014 reichte sie bei der staatlichen „Agentur für strategische Initiativen“ ihr Projekt der Wissenschaftsparks für Kinder ein. Und schon bald wurde aus diesem Projekt ein nationales Programm – und Rakowa selbst stellvertretende Bildungsministerin.


Ministerin war damals die ultrakonservative Theologin Olga Wassiljewa. Die Medien sahen in ihr, vor allem wegen ihrer unbeholfenen Ausdrucksweise, eine finstere Witzfigur. Sie war aber auf ihre Art ausgesprochen erfolgreich: Der größte russische Schulbuch-Verlag Prosweschenije (Aufklärung) wurde mit ihrer Hilfe zum Monopol.


Die Eigentümerstruktur des Aufklärung-Verlags ist intransparent, er gehört offenkundig zum Netzwerk Arkadij Ro­tenbergs, des einstigen Judo-Trainers und eines der engsten Freunde Wladimir Putins. Normalerweise baut Rotenberg Straßen, Pipelines wie die überirdischen Teile von Nord Stream, Brücken wie die Brücke zur annektierten ukrainischen Halbinsel Krim oder Infrastrukturobjekte wie die olympischen Bauten in Sotschi. Die staatlichen Aufträge an Rotenbergs Unternehmen beziffern sich jährlich auf mehrere Milliarden Euro. Der Verlag ist nur ein kleiner Teil von diesem Netzwerk, aber er erfüllt gleichzeitig die wichtige Aufgabe der ideologischen Kontrolle. Und das betrifft nicht nur Geschichte oder Gesellschaftskunde.


Damit ein Lehrbuch in die russischen Schulen kommt, braucht es eine „Empfehlung“ des Bildungsministeriums. In Wassiljewas Amtszeit wurden die Schulbücher aller anderen Verlage von der Empfehlungsliste gestrichen. Ein populäres Mathe-Lehrbuch verlor die „Empfehlung“ mit der Begründung, es sei „unpatriotisch“, weil es in den Aufgaben „ausländische Märchenfiguren“ wie Puh den Bär oder Karlsson vom Dach verwende.

Das geschah noch vor Rakowas Zeit im Ministerium, welches übrigens nach einer Reform nicht mehr Bildungs-, sondern Aufklärungsministerium hieß. Die technologiebegeisterte Vizeministerin setzte sich unter anderem für digitale Schulbücher ein, was deutlich den Geschäftsinteressen von Prosweschenije widersprach. Prosweschenije ist aber nicht nur ein Verlag für Schulbücher, sondern auch Lieferant von Technik und Lernmaterialien an Bildungseinrichtungen. Dazu hätten auch die von Rakowa ins Leben gerufenen Wissenschaftsparks gehören sollen: Allein die Erstausstattung der bereits gebauten Parks hat insgesamt etwa 150 Millionen Euro gekostet. Doch Rakowa zeigte sich störrisch und unkooperativ. Nach einem Machtwechsel im Ministerium, der auch Wassiljewa ihren Posten kostete, wechselte Rakowa zur staatlichen Sberbank und wurde dort Leiterin der Bildungsprojekte. Nun wurde sie verhaftet, und mit ihr ihr Lebenspartner, zwei Mitarbeiter, eine Administratorin der „Schaninka“ – und ihr schwerkranker Rektor Sujew.


Laut Ermittlungsbehörden habe die Universität über Rakowas Team einen Auftrag vom Bildungsministerium erhalten und ihn zwar ausgeführt, aber nicht ganz richtig. Zum einen habe sich die Uni verpflichtet, hundert Lehrer aus elf russischen Regionen an einem Weiterbildungsprogramm teilnehmen zu lassen. Aus den Unterlagen der Universität sei aber nicht ersichtlich, aus welchen Regionen die Lehrer tatsächlich gekommen seien, deswegen könne der Auftrag nicht als ausgeführt anerkannt werden. Zum anderen seien in der beauftragten soziologischen Studie über junge russische Lehrer nicht alle Quellen korrekt angegeben: Statt laufend im Text, seien manche in einem Verzeichnis zusammengefasst. Das deute auf eine Verschwörung zwischen den Mitarbeitern des Ministeriums und der Hochschulleitung hin. Das geht aus einem Gutachten hervor, welches aus dem Bildungsministerium kommt und von einer Agentur angefertigt wurde, die normalerweise Schulbücher zertifiziert. Die aktuelle Leiterin dieser Agentur ist die Ex-Ministerin Wassiljewa.


Ginge es tatsächlich um die Gelder des Ministeriums, sagt Grigory Yudin, Soziologe und Professor der „Schaninka“, hätte man sie einfach zurückgefordert, notfalls hätte es eine Zivilklage gegeben. Darüber, dass als „Schaden“ die ganze Summe des Auftrags gehandelt wird, wundert sich inzwischen keiner. Diese Praxis kennt man bereits aus dem zweiten Prozess gegen den ehemaligen Öl-Tycoon Michail Chodorkowski. Aus vermeintlichen Unregelmäßigkeiten des Öltransfers zwischen den Teilen des Yukos-Konzerns wurde gefolgert, Chodorkowski habe das gesamte von Yukos geförderte Öl gestohlen, alle 350 Millionen Tonnen. Die Yukos-Prozesse von 2003 bis 2010 gelten ohnehin als Testlabor für viele spätere Unrechtsverfahren. Der Trick wird seitdem regelmäßig angewendet, um eine „besondere Schwere der Tat“ zu konstruieren. So wurde 2017 der Regisseur Kyrill Serebrennikow beschuldigt, die gesamte Finanzierung seiner Theaterproduktionen unterschlagen zu haben, dabei liefen seine Produktionen jahrelang und mit großem Erfolg, sogar während der Prozesse.


Ebenfalls aus den Yukos-Prozessen kennt man die Praxis, schwer kranke Menschen zu Aussagen gegen die eigentlichen Zielpersonen durch Verweigerung von medizinischer Versorgung zu erpressen. Der Chefjurist von Yukos, Wassilij Alexanjan, ein strebsamer Harvard-Absolvent mit einem Faible für Luxus, galt den Ermittlern vermutlich als leichtes Opfer, man hält ohnehin nicht viel von Firmenanwälten. Doch Alexanjan weigerte sich, seine ehemaligen Arbeitgeber zu belasten. In den zweieinhalb Jahren, die er im Untersuchungsgefängnis unter folterartigen Bedingungen gehalten wurde, erkrankte er an Aids, Tuberkulose und Lymphdrüsenkrebs und verlor fast vollständig das Augenlicht. Trotz drei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde der mit Tumoren und Wunden gezeichnete Alexanjan, der sich kaum noch selbständig bewegen konnte, nicht in ein Krankenhaus verlegt, sondern regelmäßig zu Gerichtsverhandlungen gebracht, schließlich musste der Terror gut sichtbar sein. Ende 2008 wurde er gegen eine präzedenzlos hohe Kaution entlassen und starb 2011 im Alter von 39 Jahren.

Ein anderes prominentes Opfer dieser Praxis, die längst zu Routine geworden ist, war der Wirtschaftsprüfer Sergej Magnitski, dessen Namen das vom US-Kongress verabschiedete Gesetz gegen korrupte russische Beamte trägt. Im Prozess gegen den Regisseur Serebrennikow und seine Kollegen traf es den Theaterdirektor Alexej Malobrodski, der anders als die meisten Mitangeklagten etwa ein Jahr im Gefängnis gehalten wurde: Er war nämlich als einziger von ihnen ernsthaft krank. Später wurde er zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


Menschen wie Malobrodski und Sujew sind keine Kollateralopfer der Verfolgung von anderen, wichtigeren oder prominenteren Menschen. Sie werden gezielt ausgesucht, weil sie verwundbar sind und keine Interessen am eigentlichen Gegenstand der Strafverfahren haben. Das macht sie in den Augen der Ermittler zu bequemen Belastungszeugen. Vielleicht werden auf diese Weise tatsächlich viele Falschaussagen erzwungen. Und wenn diese Pläne an der Würde oder am Anstand der Opfer zerbrechen, werden die Folterknechte besonders fies.


Dass mit Sujew auch seine Universität in Mitleidenschaft gezogen wird, mag Zufall sein, passt aber in den Zeitgeist. Auf die Hochschulen wird ohnehin starker Druck ausgeübt, renommierte staatliche Universitäten stellen Kooperationen mit ausländischen Partnern ein und entlassen besonders unbequeme unabhängige Lehrkräfte. Dass „Schaninka“, die eine strategische Partnerschaft mit der University of Manchester hat und britische Abschlüsse verleiht, noch existiert, grenzt im heutigen Russland an ein Wunder.


Wir sind Realisten, sagt Professor Yudin, wir glauben nicht an Wunder. Niemand rechne ernsthaft damit, dass Sujew freigesprochen wird, niemand werde in Russland freigesprochen. Und so bleibt nur die Hoffnung, dass er irgendwie herauskommt, mit einer Bewährungsstrafe oder wie auch immer – Hauptsache, lebendig.

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