Das Echo der Propaganda
- Nikolai Klimeniouk
- 30. Okt. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Jan.
Der russische Journalist Alexej Wenediktow klingt oft wie eine Stimme der Opposition. Dabei hat er bei seinem Sender die Methoden postfaktischer Information etabliert. Jetzt hat ihn Alexej Nawalnyj auf seine Sanktionsliste gesetzt.
Veröffentlicht in der FAS, 30.10.2022

Der einstige Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, Alexej Wenediktow, gilt vielen als eine Galionsfigur der liberalen Medien in Russland. Umso größer war die Empörung, als die Antikorruptionsstiftung von Alexej Nawalnyj, FBK, Wenediktow am 21. Oktober auf die „Liste der korrupten Bürger und Kriegstreiber“ setzte, die sie als Vorlage für westliche Sanktionslisten versteht. Nach der Auffassung der Stiftung habe er eine zentrale Rolle bei der Fälschung der Wahlen in Moskau im Herbst 2021 gespielt.
Wenediktow ist eine der umstrittensten öffentlichen Personen Russlands. Für die einen ist er jemand, der mit schlauen Kompromissen einen liberalen Sender über Jahre am Leben halten konnte – Echo Moskwy wurde erst nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in die Ukraine geschlossen und Wenediktow selbst zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Für die anderen ist er ein Kollaborateur, der die Opposition im Interesse des Kremls manipulierte und Proteste entschärfte. Vor allem aber ist Wenediktow, der Echo Moskwy seit 1997 leitete, ein Vorreiter des „Postfaktischen“. Bei seinem Sender etablierte er jene Methoden der Zersetzung der Wahrheit, die später zum Markenzeichen der russischen Propaganda wurden und zum wichtigen Instrument westlicher Populisten wie Donald Trump.
Zu den lautesten Kritikern der Entscheidung von FBK gehört der liberale Politikwissenschaftler Kirill Rogow. In der hypothetischen Ruhmeshalle der russischen Demokratie, schrieb er empört, nehme Wendiktow einen großen und ehrenvollen Platz ein. Einen schädlicheren Schritt, als ihn auf die Sanktionsliste zu setzen, könne mach sich nicht ausdenken: „Fünfundzwanzig Jahre lang sind wir mit Echo Moskwy aufgewacht. [Nawalnyjs Mitstreiter] sind wie Hunderte und Tausende andere Verfechter der russischen Demokratie mit Echo Moskwy aufgewachsen. Die Proteste, die die russische Opposition organisierte, hatten das Gewicht und den Klang, den sie hatten, zum Teil dank Wenediktow und Echo Moskwy“.
Wie der Sender bei den Protesten manchmal tatsächlich klang, konnte man zum Beispiel am 01. Februar 2008 erleben, als sich am Puschkin-Platz in Moskau etwa zweihundert Menschen (was damals ungewöhnlich viel war) versammelten, um für die Freilassung von Wassilij Alexanjan zu demonstrieren. Der ehemalige Chefjurist des Ölkonzerns Yukos war bereits seit gut zwei Jahren in U-Haft. Die Ermittlungsbehörden wollten Alexanjan zu Falschaussagen gegen den einstigen Konzernchef und Putin-Gegner Michail Chodorkowskij zwingen. Doch der damals 35-jährige Harvard-Absolvent zeigte sich standhaft. Im Gefängnis erkrankte er an AIDS, Tuberkulose und Lymphdrüsenkrebs, die Behörden verweigerten ihm medizinische Versorgung. Stattdessen wurde der fast vollständig erblindete Alexanjan, der kaum imstande war, sich selbstständig zu bewegen, immer wieder in den Gerichtssaal geschleppt. Wer allerdings während der Demo für seine Freilassung „Echo Moskwy“ hörte, erfuhr, Alexanjan sehe deswegen so krank aus, weil er von Chodorkowskij und dessen Geschäftspartner Leonid Newslin mit Quecksilber vergiftet worden sei. Überhaupt soll Chodorkowskij viele Morde befohlen haben, man könne ihm aber nichts nachweisen, weil er alle Spuren und Zeugen beseitigt hätte.
Diese Behauptungen kamen unwidersprochen vom Studiogast Michail Leontjew. Er war einst liberaler Journalist, später wurde er flammender Unterstützer Putins und Mitglied von Alexander Dugins rechtsradikaler Eurasischer Bewegung. 2008 moderierte er eine für damalige Maßstäbe ungewöhnlich heftige Hetzsendung im staatlichen Fernsehen. Leontjew war einer von vielen Hasspredigern, die regelmäßig bei Echo Moskwy auftraten. Ein anderer war der Schriftsteller Eduard Limonow, der Anführer der von ihm und Alexander Dugin gegründeten Nationalbolschewistischen Partei. Zu den Stammkommentatoren des Senders gehörte bis zum Tag seiner Schließung ein anderer radikaler Schriftsteller, Alexander Prochanow, der schon während des Afghanistankrieges für seine imperiale Militanz den Spitznamen „Nachtigall des Generalstabs“ verdiente und heute zu den lautesten Hetzern gegen die Ukraine zählt. Anders als Leontjew hatte Prochanow keine Sendung im staatlichen Fernsehen, für ihn war der überregionale Radiosender die einzige Plattform mit großer Reichweite. Nach der Schließung von „Echo“ wurde Prochanow gefragt, wo man ihn nun hören könne. Seine Antwort: „Legen Sie Ihr Ohr auf den Boden. Hören Sie das Dröhnen der Panzer, die durch den Donbass rollen? Das ist meine Stimme!“
Es habe verschiedene Strategien gegeben, sich der Autokratisierung zu widersetzen, schrieb der Politologe Rogow, Wenediktow habe sich für die Variante entschieden, die es ihm ermöglicht habe, Echo so lange wie möglich als Pfeiler der Widerstandsinfrastruktur zu erhalten. Diese Darstellung gehört zum Kern von Wenediktows Mythos: er habe die Vertreter der „anderen Seite“ nach Absprache mit Putins Verwaltung zu Wort kommen lassen, um auch Liberalen eine Plattform zu geben, wie Rogow selbst. Wenediktow begründete die Präsenz von Hetzern mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit: Man müsse beide Seiten hören, nur so berichte man objektiv, das sei das Wesen der journalistischen Qualitätsarbeit. Die Wenediktow-Doktrin erhob jede Behauptung zur Meinung, die man respektieren müsse, und verklärte jede Lüge als die originelle Sicht der Dinge. Den Zuhörern wurden der Politologe Rogow und der Hetzer Prochanow als gleichermaßen respektable Sprecher präsentiert, und wem man Glauben schenken sollte, oblag nur der eigenen politischen Präferenz. Die Wahrheit, suggerierte der Sender, sei eine Ansichtssache.
Die Nähe zu Propagandisten war nicht das Einzige, was die Glaubwürdigkeit der Regimekritiker, die man pauschal „Liberale“ nennt, untergrub. Zu den Stammkommentatoren gehörten auch die unseriösesten Gegner des Regimes. Eine der schillerndsten Gestalten unter ihnen war die Publizistin Julia Latynina. Sie kritisiert in der Tat Putin, ansonsten schwärmt sie vom chilenischen Diktator Pinochet, teilt gegen NGOs und Menschenrechtler aus, leugnet den Klimawandel und kommentiert leidenschaftlich gern jedes erdenkliche Thema mit atemberaubend vielen faktischen Fehlern, was sie längst zu einer Witzfigur gemacht hat. Ihre einzige Funktion in der Öffentlichkeit scheint zu sein, den Eindruck zu erzeugen, die Liberalen seien Vollspinner und hätten null Respekt vor Wahrheit, Recht und Menschenwürde. Im Grunde seien sie nicht so anders als das Regime.
Auf seine eigene Nähe zum Regime war Alexej Wenediktow immer besonders stolz. Er nennt Putins Sprecher Dmitrij Peskow und den Außenminister Sergej Lawrow seine Freunde, lässt sich gern mit der RT-Chefin Margarita Simonjan oder die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, fotografieren und stilisiert sich zum Berater der Mächtigen und zum Vermittler zwischen der Regierung und der Opposition. Nach dem Bericht von BBC vom Jahr 2020 machte sich Wenediktows gerne einen Spaß daraus, Oppositionelle zu Festen einzuladen und sie in möglichst unangenehme Situationen zu bringen, indem er sie zum Beispiel an einen Tisch mit Vertreten des Regimes setzte. Ein Auftritt Wenediktows wird mit Sicherheit in die Geschichtsbücher eingehen. Im Dezember 2011 nahm er an einem Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung teil. Es ging darum, die Massenproteste gegen Wahlfälschungen, die für den Kreml zunehmend zur Bedrängnis wurden, zu entschärfen: Man befürchtete, die Lage könne sich so entwickeln wie auf dem Kyjiwer Maidan. Hinter dem Rücken der Anmelder wurde vereinbart, die Demonstration aus der unmittelbaren Nähe des Kremls an einen isolierten Platz zu verlegen.
Der Protest blieb erfolglos, auf Demos folgten Repressalien und die Verschärfung des Versammlungsrechts. Alexej Nawalnyj hatte seine ersten Auftritte als Oppositionsführer von nationaler Bedeutung und kam das erste Mal ins Gefängnis, wenn auch nur für kurze Zeit. Bei der Dumawahl im Herbst 2021 wurden Wenediktow und Nawalnyj Feinde. Nawalnyj warb damals für eine Strategie des „Smart Voting“, die darin bestand, die aussichtsreichsten Kandidaten, die nicht für die Regierungspartei „Einiges Russland“ antraten, zu unterstützen, um die Partei zu Schwächen und Putin zu ärgern. In Moskau wurde auch online abgestimmt, die Ergebnisse der Onlineabstimmung wurden nach allgemeiner Überzeugung und nach Einschätzung von Experten manipuliert, um das schwache Abschneiden der Regierungspartei in den Wahllokalen auszugleichen. Wenediktow, der damals Leiter des Wahlbeobachtungsteams in Moskau war, bestätigte trotzdem die Korrektheit der Wahl, das brachte ihn jetzt auf Nawalnyjs Sanktionsliste.
Nawalnyj sitzt nun im Straflager, Wenediktow steht auf seiner Sanktionsliste, wird aber trotzdem als eine wichtige Oppositionsfigur hofiert. Der Sender, der jetzt einfach nur Echo heißt, hat seinen Hauptsitz in Berlin. Es gehört zwar nicht mehr zum Medienimperium von Gazprom und sendet nur im Internet, tut es aber weitgehend mit den gleichen Personen, allerdings ohne den Hetzer Prochanow. Und auch Wenediktow ist nicht dabei. Ob er noch eine Funktion bekommen wird, ist derzeit nicht bekannt.