Das Lächeln des ukrainischen Widerstands
- Nikolai Klimeniouk
- 12. Jan. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Feb. 2024
Als die Verteidiger von Mariupol dem russischen Bombardement standhielten, ging das Bild von Mykhailo Dianow um die Welt. Er hat überlebt – auch die Gefangenschaft. In seinem Schicksal finden sich die Ukrainer wieder.
Veröffentlicht in: FAZ, 12.01.2023

Es ist noch nicht so lange her, da wähnten wir uns in postheroischen Zeiten. Ging es nicht um das Marvel-Universum oder die Nationalelf, wirkte allein schon das Wort „Held“ wenn nicht direkt obszön, so doch zumindest beunruhigend, wie ein Gespenst aus einer längst vergangenen, unheilvollen Welt. Nun müssen wir wieder lernen, mit Helden im medialen Raum und an unserer Seite zu leben.
Es war ein Foto aus dem belagerten Stahlwerk in Mariupol, das Mykhailo Dianow, den Sergeant der 36. Brigade der ukrainischen Marineinfanterie, weltberühmt machte. Schelmisch lächelt der verwundete Soldat in die Kamera und macht mit der linken Hand ein Victory-Zeichen, sein rechter Arm hängt in einer Schleife, geschient mit einem externen Fixateur. Das Bild wurde von einem Kameraden geschossen, Dmytro Kosazkyj, dem Presseoffizier des Asow-Regiments der Nationalgarde. Im friedlichen Leben war Kosazkyj Fotograf, und Dianow war Musiker. Zwei Monate dauerten die Kämpfe um Mariupol, noch einen Monat lang hielten die Militärs Stellung auf dem Gelände des Kombinats Asow-Stahl.
Das zweite berühmte Foto von Dianow entstand nach vier Monaten der russischen Gefangenschaft. Im September 2022 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Viele Medien berichteten damals, er sei in die Heimat zurückgekehrt, dabei hat Dianow die Ukraine nie verlassen. Wie die meisten Verteidiger von Asow-Stahl war er in der ehemaligen Strafkolonie in Oleniwka im Oblast Donezk festgehalten worden, auf dem Gebiet der sogenannten „Donezker Volksrepublik“. Diese Kolonie war schon im Juli des vergangenen Jahres in den Schlagzeilen. Dort kamen bei einer Explosion nach russischen Angaben 53 ukrainische Kriegsgefangene ums Leben, weitere 75 seien verletzt worden. Russland beschuldigte die Ukraine, sie habe die Strafkolonie mit den amerikanischen Präzisionsraketen Himars beschossen, doch internationale Experten sind sich einig: Nichts spreche für Himars, alles deute auf eine Brandbombe im Inneren der Baracke hin.
Alle ehemaligen Häftlinge bezeichnen die Bedingungen in Oleniwka als unmenschlich, Dianow selbst nennt das Lager für Kriegsgefangene ausschließlich „KZ“. Nach vier Monaten dort war er bis auf die Knochen abgemagert, sein verletzter Arm war grotesk verformt. Seinen Fixateur, erzählte Dianow, habe man ihm mit einer rostigen Zange und ohne Betäubung herausgerissen: „Halte durch, du bist doch Marineinfanterist.“
Er lächelt auch auf den ersten Fotos nach der Befreiung. Es war bestimmt sein Lächeln, das Dianow zu einem der bekanntesten ukrainischen Kriegshelden machte, ansonsten war es ein purer Zufall. Er war einer von Hunderten Verteidigern von Asow-Stahl, vielleicht nur ein besonders fotogener. Tausende ukrainische Soldaten kämpfen gegen die russischen Invasoren, überstehen mit Würde die Gefangenschaft, erleiden Verletzungen, kehren nach der Genesung oder nach der Befreiung an die Front zurück. Das ist etwas, was wir jetzt auch lernen müssen.
Zum Helden wird man unverhofft, und zwar meist nicht, weil man etwas Besonderes vollbracht hat, sondern weil einem etwas Wichtiges fehlte, vor allem die Waffen. Die Belagerung von Mariupol war so brutal, die Zerstörungen waren so verheerend, die Opfer so zahlreich, weil der ukrainischen Armee keine effizienten Waffen zur Verfügung standen. Ihre Luftabwehr war schwach, sie hatte keine Flakpanzer Gepard und keine Boden-Luft-Systeme Iris-T. Sie besaß keine Präzisionshaubitzen und keine mobilen Raketenwerfer wie die amerikanischen Himars und deutschen Mars II, um den Dauerbeschuss durch die russische Artillerie zu verhindern. Und das ist es, womit sich Dianow heute unter anderem beschäftigt: Er wirbt für die Lieferung besserer Waffen. Das tat er zum Beispiel nach seiner medizinischen Behandlung bei Reisen nach Washington und New York: „Wir müssen die Botschaft der Ukraine weitergeben und den Amerikanern vermitteln, dass sie die besten Waffen haben und wir die beste Armee.“ Man brauche ihre Symbiose, wenn man nicht wolle, dass sich der Krieg in die Länge zieht.
Im Dezember wurde Dianow in den Vereinigten Staaten an seinem Arm operiert, an dem vier Zentimeter Knochen fehlten. Die Behandlung fand so spät statt, weil er erst das nötige Gewicht zulegen musste, um die Operation zu überstehen: In der russischen Gefangenschaft hatte Dianow 25 Kilo verloren. In einem Klinikum in St. Louis im Bundesstaat Missouri wurde ihm ein Stück Knochen aus der Hüfte in den Oberarm verpflanzt. Die Ukrainer haben für seine Operation sechs Millionen Hrywni (etwa 160 000 Euro) gesammelt, doch letztlich wurden die Kosten vom Fußballklub Schachtar Donezk übernommen, dessen Eigentümer Rinat Achmetow auch das nun zerstörte Stahlwerk Asow-Stahl gehört. Einen Teil des gespendeten Geldes übergab Dianow für bionische Prothesen an einen Kameraden, der bei Bachmut einen Arm und ein Bein verloren hat. Der Rest geht an die Familien gefallener Verteidiger von Asow-Stahl.
Ob Mykhailo Dianow daran denke, in die Politik zu gehen, wie es in den Vereinigten Staaten üblich sei, wollte die Journalistin des Senders Voice of America wissen, der kürzlich ein großes Interview mit ihm brachte. Eigentlich kann man sich das gut vorstellen: Dianow hat Charisma und Humor, kann gut sprechen und meistert ohne Mühe stundenlange Interviews. Das komme nicht infrage, antwortet er, es sei sogar noch unwahrscheinlicher, als dass er eines Tages Russland lieben würde.
Helden werden in besonderen Zeiten geboren. Dianow will, wie die meisten seiner Mitbürger, so schnell wie möglich wieder in die Normalität zurückkehren. Der 42-Jährige hat friedliche Zukunftspläne. Er möchte Kleinunternehmer werden, sagte er, er träume davon, in seiner Heimatstadt Ternopil eine Kunstschmiede zu eröffnen, einen Bootsverleih und ein Ferienlager am großen See. Und wie früher Bassgitarre in einer Band spielen zu können wäre auch nicht schlecht.