Das schreckliche Wort „Krieg“
- Nikolai Klimeniouk
- 2. Dez. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine. Den darf man in Deutschland aber nicht so nennen. Warum eigentlich?
Veröffentlicht in: FAS, 02.12.2018

In der Meerenge von Kertsch wurden drei Boote der ukrainischen Marine von russischen Kriegsschiffen angegriffen: gerammt, beschossen und in einen russischen Hafen abgeschleppt. 23 ukrainische Marinesoldaten wurden festgesetzt, darunter drei vermutlich schwerverletzte. Sie wurden von Russland wegen des „illegalen Grenzübertritts“ vor Gericht gestellt und in die Untersuchungshaft geschickt – und nicht als Kriegsgefangene behandelt. Denn offiziell gibt es zwischen Russland und der Ukraine keinen Krieg, obwohl dieser Krieg schon fast fünf Jahre dauert und mehr als zehntausend Todesopfer allein auf der ukrainischen Seite gefordert hat. Vor mehr als vier Jahren wurde die ukrainische Krim von Russland annektiert; die von Russland unterstützten Banden halten Gebiete im Osten der Ukraine immer noch besetzt; mehr als zwei Millionen Binnenflüchtlinge können von der Rückkehr nach Hause nur träumen. Selbst der Hafen, in den die zum russischen Geheimdienst FSB gehörende Küstenwache die ukrainischen Boote gebracht hat, befindet sich eigentlich gar nicht in Russland, sondern auf dem besetzten ukrainischen Hoheitsgebiet.
Die groteske Art, wie die russische Führung diesen Krieg schon seit Jahren leugnet, sorgt selbst in Russland für Lacher: So werden im Volksmund die eigenen Soldaten, die in anderen Ländern Krieg führen, „Ichtamnety“ genannt, übersetzt heißt es ungefähr „Esgibtsiedortnichte“. Die Ukraine dagegen lebt im Krieg und spricht vom Krieg, „vor dem Krieg“ heißt dort „vor 2014“ und nicht „vor 1941“, wie in Russland.
Deswegen dachten viele Menschen in der Ukraine, der russische Überfall auf ihre Schiffe könnte international zum game changer werden: war es doch der erste direkte, offene, unverschleierte und dazu völlig unprovozierte Angriff des russischen Militärs auf die ukrainischen Streitkräfte. Jetzt, dachten sich viele Ukrainer, wird die Welt endlich einsehen, dass in der Ukraine Krieg herrscht.
Konflikt, Konfrontation, Zwischenfall
Sie müssen schwer enttäuscht sein: Zumindest in Deutschland sprechen die Politik und die Medien beharrlich weiter vom „Ukraine-Konflikt“. Konflikt, wirklich? In der Ukraine wird dieser Sprachgebrauch gern mit harten Metaphern verspottet. Eine Vergewaltigung, heißt es, sei letztendlich auch nur ein Interessenkonflikt: Das Interesse der einen Konfliktpartei ist sexuelle Befriedigung, das Interesse der anderen körperliche Unversehrtheit. Beides menschlich und legitim, oder? Der in Kiew lebende russische Journalist Arkadi Babtschenko, dessen vorgetäuschte Ermordung im Mai dieses Jahres großes Aufsehen erregte, druckte sich drastischer aus: „Man redet nicht vom Konflikt Hitlers mit den Juden, man redet vom Holocaust.“ Entsprechend skeptisch betrachtet man in der Ukraine europäische Vermittlungsversuche.
Zur gleichen Zeit berichten etliche deutsche Medien so: „Moskau und Kiew liefern sich einen Konflikt in der Straße von Kertsch.“ Oder: „Die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine spitzt sich weiter zu.“ Oder sogar „Ukraine gegen Russland: Kreml warnt vor Eskalation wegen Kertsch-Zwischenfall.“ Im Leitartikel der „Frankfurter Rundschau“ vom 27. November wurde allen Ernstes behauptet, in Moskau und Kiew fehle der Wille, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, die Europäische Union müsste den Druck auf die Akteure erhöhen: „Es spielt überhaupt keine Rolle, wer wen in der Seestraße von Kertsch provoziert hat. Genauso wie es keine Rolle spielt, ob im Osten der Ukraine die Russland-nahen Separatisten oder ukrainischen Soldaten die Waffenruhe ständig brechen.“ Aber eine Sache muss man dem Autor Viktor Funk zugutehalten: Immerhin benutzt er das Wort „Krieg“, das man in Deutschland am allerliebsten ganz vermeidet.
Kein Krieg, nirgends
Diese Verdruckstheit hat Tradition. Im Dezember 2014, drei Monate nach der blutigen Schlacht um Ilowajsk, veröffentlichten sechzig deutsche Prominente einen Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Er fing an mit der Behauptung „Niemand will Krieg“ und enthielt solche Perlen wie „das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer“. Oder: „Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit Nato-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden.“ Zu den Unterzeichnern gehörten neben dem Putin-Freund Gerhard Schröder solche um den Frieden besorgte Bürger wie der Alt-Bundespräsident Roman Herzog, der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn und der Regisseur Wim Wenders.
Damals machten gerade die „Putin-Versteher“ und das entsprechende Wort Karriere in den deutschen Medien. In den Jahren danach haben sich auch vernünftige und kompetente Stimmen durchgesetzt, doch das Wort „Krieg“ scheint zumindest im politischen Gebrauch immer noch ein Tabu zu sein. Es fehlt selbst im jüngsten Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Ukraine, wo von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, militärischer Intervention Russlands im Donbass und gefährlicher russischer Provokationen im Asowschen Meer die Rede ist.
Krieg hat nur Nachteile
All das erinnert daran, wie der russische Präsident Putin den Namen des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj meidet und stattdessen immer von „einer gewissen Person“ spricht. Oder daran, wie manche vermutlich an Krebs erkrankte Menschen zu allen möglichen Ärzten gehen, bloß nicht zum Onkologen, als könnte die Diagnose selbst die Krankheit auslösen. In den Kreisen der regierungskritischen Russen ist das Wort „Krieg“ mindestens genauso unpopulär wie in der deutschen Politik. Sie wollen mit allen Mitteln die Illusion aufrechterhalten, dieser Krieg gehe sie nichts an, es sei nicht ihr Land, welches einen Krieg gegen den Nachbarstaat führt, sondern bloß eine weitere Untat der ohnehin unbeliebten Regierung. Eine leitende Mitarbeiterin des unabhängigen Fernsehsenders Doschd beschwerte sich auf Facebook nach dem Übergriff der russischen Marine auf ukrainische Schiffe, dass die russisch-ukrainischen Beziehungen ihre Kollegen davon abhalten, über die Verfolgung eines russischen Rappers zu berichten: „Das Wort ,Krieg‘ will ich gar nicht schreiben.“ Eine Kuratorin schrieb: „Sollen doch alle Politiker, Bürokraten und Militaristen sich in diesem Krieg gegenseitig umbringen und uns in Ruhe lassen.“ Und die Staatspropaganda erzählt von ukrainischen Provokationen und von den Schrecken des vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko verhängten Kriegsrechts: Es sei schon Salz aus dem Handel verschwunden, bald werde die Kiewer Junta anfangen, das Eigentum der Bürger zu konfiszieren.
Die Entscheidung Poroschenkos, in zehn Grenzregionen das Kriegsrecht einzuführen, stieß selbst in der Ukraine auf harte Kritik. Als Erstes wurde die Vermutung geäußert, Poroschenko wolle so die Präsidentschaftswahlen aussetzen, um seiner sehr wahrscheinlichen Niederlage zu entkommen. Da das Kriegsrecht aber nach heftigen Debatten in den Medien und im Parlament für nur 30 Tage verhängt wurde, wird es die im Januar beginnende Wahlkampagne wohl nicht beeinträchtigen. Das genaue Ziel dieser Maßnahme bleibt weiterhin unklar, sie hat aber jetzt schon eine deutliche Auswirkung: Der Krieg ist jetzt offiziell. Es gab gute Gründe, warum die Ukraine diese Entscheidung so lange mied: Die amtliche Anerkennung des Kriegs macht die Lage der Angegriffenen noch schwerer. An kriegführende Länder werden keine IWF-Kredite vergeben, der formell anerkannte Krieg steht der Assoziierung mit der Europäischen Union ebenso wie einem möglichen Nato-Beitritt im Wege und hat noch viele andere unerwünschte Konsequenzen. Es wird viel darüber gerätselt, warum Poroschenko all das nun doch in Kauf nimmt. Vermutlich, spekulieren Poroschenkos Unterstützer, sei die militärische Bedrohung durch Russland im Moment eine akutere Gefahr als die wirtschaftliche Misere. Die Skeptiker warnen vor den Einschränkungen der Bürgerrechte. Und die Medien und Politik im friedliebenden Deutschland haben jetzt das Problem, wenn sie über den Krieg sprechen, ihn auch beim Namen zu nennen. Als würden Kriege dadurch ausgelöst, dass man über sie in deutschen Zeitungen schreibt.