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Das verbrecherische Regime

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 3. Jan. 2016
  • 6 Min. Lesezeit

Das Ausmaß der Verbindungen der russischen Staatsspitze zur organisierten Kriminalität wurde lange Zeit verdrängt. Jetzt bringt ein Film eine Diskussion über die Verschmelzung zwischen den beiden Sphären ins Rollen.

Veröffentlicht in: FAS, 03.01.2016


Screenshot FAZ.net

Der Petersburger Kampfsportler und Gelegenheitsstuntman Leonid Uswjazow verbrachte zwanzig von seinen 58 Lebensjahren hinter Gittern, zehn wegen einer Gruppenvergewaltigung und zehn wegen Hehlerei und illegaler Devisengeschäfte. 1994 kam er bei einer Schießerei ums Leben. Seinen Grabstein ziert ein von ihm selbst vorsorglich gedichtetes Epitaph: „Hurra, jetzt bin ich endlich tot und schufte nicht mehr für die Weiber. Zum Schluss hab’ ich mein Ding gleich zwei Mal reingesteckt, nun fährt mich weg der Leichenwagen.“ In Russland erregen diese Zeilen und ihr Autor jetzt plötzlich große Aufmerksamkeit. Denn zwischen seinen Gefängnisgängen, also zwischen 1968 und 1982, war Uswjazow Judo-Trainer am Sportclub „Trud“. Nicht nur trainierte er dort Wladimir Putin, er verhalf dem jungen Sportler aus einer ärmlichen Familie zur Aufnahme an die begehrte juristische Fakultät der Leningrader Staatsuniversität.


Die Verbindungen der Staatsspitze zur organisierten Kriminalität sind in Russland das heißeste Thema der letzten Wochen - und nicht nur in den sozialen Netzwerken und den wenigen noch verbliebenen kritischen Medien. Der Auslöser war ein Film, den der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj jüngst im Netz veröffentliche. Der 45 Minuten lange Streifen fasst die Ergebnisse einer gut dokumentierten Recherche von Nawalnyjs Antikorruptionsstiftung über den Generalstaatsanwalt Jurij Tschaika zusammen. Tschaikas Familienmitglieder und Protegés sollen mit seiner Hilfe durch illegale Staatsaufträge, Betrug, Amtsmissbrauch und räuberische Erpressung an millionenschwere Vermögen gekommen sein, die sie in Immobilien in der Schweiz und in Griechenland investieren. Der Film erzählt von der Zerstörung einer staatlichen Reederei, die eine ganze Region ausbluten ließ, und vom vertuschten Mord an dessen Geschäftsführer, der das Unternehmen den Plünderern nicht überlassen wollte. Es werden Unterlagen gezeigt, die belegen, dass Menschen aus Tschaikas nächster Umgebung gemeinsame Firmen mit Mitgliedern einer berüchtigten Bande besitzen, die vor einigen Jahren mit dem Mord an einer zwölfköpfigen Familie Schlagzeilen machte und seitdem als Synonym für äußerste kriminelle Brutalität gilt.


Enge Verbindungen

Nawalnyjs Film löste einen Dominoeffekt aus. Jeden Tag entdeckt man neue sensationelle Fakten, die zwar längst bekannt sind, die aber niemand wahrhaben wollte. Diese Fakten wiegen schwer. So wurden zum Beispiel im Londoner Prozess um die Ermordung des ehemaligen FSB-Offiziers Alexander Litwinenko hohe Beamte des russischen Staates schwer belastet. Laut einer Zeugenaussage sei der jetzige oberste russische Drogenfahnder Viktor Iwanow bereits Anfang der neunziger Jahre als Geheimdienstler in Sankt Petersburg in die organisierte Kriminalität involviert gewesen und habe dem mächtigen Mafia-Clan, der sogenannten Tambowskaja-Gruppierung, geholfen, Drogen aus Kolumbien nach Westeuropa über den Petersburger Hafen zu schmuggeln. Wladimir Putin, damals Petersburger Vizebürgermeister, habe ihn dabei „beschützt“. Vor seiner Ernennung zum Chef der Drogenfahndungsbehörde war Iwanow stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und Putins Personalberater; außerdem saß er im Vorstand einiger Staatsunternehmen. Litwinenko, der seit 2000 in Großbritannien als politischer Flüchtling lebte und britische und spanische Geheimdienste bei den Ermittlungen über organisierte Kriminalität aus Russland unterstützte, wurde 2006 in London mit einer hohen Dosis des äußerst seltenen und extrem teuren radioaktiven Stoffs Polonium-210 vergiftet - womöglich weil er über Iwanow recherchierte. Britische Ermittler sind überzeugt, dass der Mordauftrag auf höchster Ebene der russischen Führung erteilt worden sei, anders komme man an Polonium gar nicht heran. Auf jeden Fall wurde der mutmaßliche Mörder vom russischen Staat in Schutz genommen und sitzt nun im Parlament.


Im November 2015 waren auch die spanischen Behörden mit ihren Ermittlungen so weit, dass sie einige mutmaßliche Mitglieder der Tambowskaja-Gruppierung, die sich längst in Spanien niedergelassen hatten, festnahmen. In der veröffentlichten Anklageschrift wird unter anderem behauptet, diese Gruppierung habe den Chef der obersten russischen Ermittlungsbehörde Alexander Bastrykin ins Amt gebracht. Die Gruppierung habe enge Beziehungen zum ehemaligen Dumasprecher Boris Gryslow, zum ehemaligen Premierminister Viktor Subkow und zu dessen Schwiegersohn, dem ehemaligen Verteidigungsminister und Chef der Steuerbehörde Anatolij Serdjukow.


Serdjukows Name tauchte schon viel früher in einem sehr brisanten Zusammenhang auf. 2006 wurde der britische Investor Bill Browder um sein milliardenschweres Unternehmen in Russland gebracht; sein Wirtschaftsprüfer Sergej Magnitski, der die Affäre aufgedeckt und die Staatsanwaltschaft informiert hatte, wurde selbst angeklagt und während der U-Haft zu Tode gefoltert. Browder leitete private Ermittlungen ein, die zum Umfeld von Anatolij Serdjukow führten. Browders Ermittlungsergebnisse dienten als Vorlage für europäische und amerikanische Sanktionen gegen korrumpierte russische Beamte: Ursprünglich waren sechzig Polizisten, Justizbeamte, Steuerfahnder und Richter auf der Liste. Nicht aber Serdjukow, den Browder und die russische Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“ für den eigentlichen Drahtzieher halten. Dafür stand Serdjukow in Russland vor Gericht: formell wegen einer Milliardenveruntreuung im Verteidigungsministerium, de facto wegen einer öffentlich gewordenen Beziehung zu einer Ministeriumsmitarbeiterin, für den Schwiegersohn eines Putinfreundes ein viel schlimmeres Verbrechen. In diesem geradezu kabaretthaften Prozess wurde Serdjukow als Opfer einer lüsternen Hochstaplerin dargestellt und freigesprochen, seine Gespielin bekam eine lächerliche Freiheitsstrafe, die sie nicht einmal absitzen musste.


Zu grotesk, um wahr zu sein

Man kann solche Geschichten über fast jedes Mitglied der russischen Führungsriege endlos erzählen, so endlos, wie der am 29. Dezember präsentierte Film vom Valerij Balajan „Who Is Mr. Putin“, der den kriminellen Werdegang des russischen Präsidenten zusammenfasst. Der Film fängt mit den ersten Korruptionsvorwürfen gegen Putin an, die bereits 1992 laut wurden. Damals hat ein Ausschuss des Petersburger Stadtrats unter dem Vorsitz der Abgeordneten Marina Salje dem Vizebürgermeister Putin vorgeworfen, Ausfuhrlizenzen für Rohstoffe im Tausch für Lebensmittellieferungen erteilt zu haben, die nie ankamen. Der Ausschuss bezifferte den Schaden auf über hundert Millionen Dollar und empfahl dem Bürgermeister Anatolij Sobtschak, Putin zu entlassen, welcher aber seinen Vize in Schutz nahm. Nach Putins Wahl zum Präsidenten und nach der Ermordung einiger prominenter Petersburger Politiker zog sich Marina Salje vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurück und lebte mehrere Jahre in einem entlegenen Dorf. Sie brach ihr Schweigen erst 2010 während der Präsidentschaft Dmitrij Medwedjews, sprach aber nur selten und sehr vorsichtig mit Journalisten.


Auch andere Geschichten aus Balajans Film sind bekannt, etliche wurden in seriösen Medien publiziert. Vom Trainer Uswjazow erzählte sogar Putin selbst voller Sympathie in seiner 2000 veröffentlichten Autobiographie - ohne natürlich zu erwähnen, dass Uswjazow Mitglied der Tambowskaja-Gruppierung war. Dennoch sind die Geschichten nicht zum öffentlichen Bewusstsein vorgedrungen. Denn zusammen ergeben sie ein Bild, das selbst für eine Verschwörungstheorie übertrieben scheint. Zu krass, zu grotesk, um wahr zu sein. Zu schrecklich, um damit ohne weiteres weiterleben zu können.

Jetzt werden diese Informationen gierig aufgeschnappt. Wahrscheinlich lieferte Nawalnyjs Film über den Generalstaatsanwalt Tschaika die letzte Erkenntnis, die den Damm der Verdrängung brach: Der russische Staat ist nicht korrumpiert und nicht mit der organisierten Kriminalität verwoben. Er ist die organisierte Kriminalität, und das verbrecherische Regime ist keine Metapher, sondern die nüchterne Bezeichnung der Sachlage.


Die Verschmelzung von Staatsapparat und Kriminalität kam nicht von ungefähr. Dieser Prozess begann in Stalins Lagern, wo Kriminelle als „sozial nahe Elemente“ Privilegien genossen und gegen die Mehrheit des damaligen Lagervolks, die politischen Gefangenen, systematisch eingesetzt wurden; er kulminierte in der Allianz zwischen Ex-KGB und den Gangstern nach dem Zerfall der Sowjetunion. Im 20. Jahrhundert beeinflusste die kriminelle Subkultur mit ihren Hierarchien, ihrem Geschmack, ihrer Sprache und ihrem sonderbaren Ethos die russische Gesellschaft in allen ihren Ausprägungen vom Alltag bis in die Hochkultur. Ihr Amalgam mit der nicht minder bizarren Subkultur der Geheimdienste wurde nun staatstragend. Die anarchistische Einstellung der Gangster ging im Staatsfanatismus der Geheimdienstler auf, zumal sich die Protagonisten nun sehr leicht mit dem Staat identifizieren können. Beide Gruppen hielten nie besonders viel vom Gesetz, und jetzt, wo sie das Gesetz kontrollieren, gestalten sie es aus ihrer Perspektive, die Putin in seiner Autobiographie treffend beschreibt. Als er seinem Trainer mitteilte, Jura studieren zu wollen, regte sich dieser furchtbar auf: „Willst du Leute einbuchten? Bist du verrückt? Du wirst doch Bulle werden!“ „Ich werde kein Bulle“, erwiderte Putin.


Das ist die Rolle des Gesetzes in Putins Staat: keine Norm, sondern das Mittel zum Einbuchten. Selbst die Sprache der Gosse schaffte es bis auf die höchste Ebene, sie dominiert mittlerweile sogar die Mitteilungen des Außenministeriums. Damit erreichte das Regime seine endgültige stilistische Vollendung. Es besteht aus Kriminellen, es benimmt sich kriminell und spricht jetzt auch wie ein kleiner Gauner. Für die russische Gesellschaft ist es ein Albtraum, für den Westen eine große Herausforderung. Der russische Politikwissenschaftler Alexander Morosow, der jetzt im Bonner Exil lebt, kommentierte die jüngste Enthüllungswelle auf Facebook: „Das Problem mit Putins Regime kann nur gelöst werden, wenn es jede Unterstützung in Europa verliert. Es muss bewiesen werden, dass es kein politisches, sondern ein kriminelles Problem für Europa darstellt. Es bedroht Europa nicht militärisch, sondern ausschließlich als Quelle der Korruption.“ Es sind nicht die russischen Politiker, die Verbindungen zur Mafia haben. Es sind die westlichen Politiker, die Kontakte zum russischen Staat pflegen und sich für diese oder jene Art von Zusammenarbeit einsetzen.

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