Den Horror hat keiner kommen sehen
- Nikolai Klimeniouk
- 14. Nov. 2021
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Feb. 2024
Ihre Familie spielte in der afghanischen Politik einst eine große Rolle. Dann musste sie fliehen: Im Interview spricht die Politologin Maryam Baryalay über das Afghanistan von heute, ihre Eltern – und ihre Großmutter, die Teil der Frauenbewegung war.
Eine erweiterte Fassung des (im Original per Du geführten) Interviews aus FAS, 14.11.2021

Die Politologin Maryam Baryalay kam als Jugendliche nach Deutschland und war 2018 Mitbegründerin der „Organization for Social Research and Analysis“, die in Afghanistan Meinungsumfragen, Risikoanalysen und datenbasierte Forschung durchführte. Als Baryalay 1984 in Kabul geboren wurde, spielten Mitglieder ihrer Familie in der Politik Afghanistans eine zentrale Rolle: Ihr Onkel Babrak Karmal war nach der sowjetischen Besetzung von der UdSSR als Staatsoberhaupt eingesetzt worden und war Chef der linken Partei DVPA. Sein Bruder, Maryam Baryalays Vater Mahmood Baryalay, war Chefredakteur der Parteizeitung und wurde später unter Mohammed Nadschibullah Vize-Premierminister. Auch Maryam Baryalays Großmutter Anahita Ratebzad war eine legendäre Figur der afghanischen Politik. Mit 26 Jahren gehörte sie zur ersten afghanischen Delegation bei einem internationalen Frauenkongress, wurde 1965 ins Parlament gewählt und später Botschafterin und Bildungsministerin. Nach dem Sturz der afghanischen Regierung 1992 musste die Familie Afghanistan verlassen. Über Umwege ging sie Anfang der Nullerjahre nach Deutschland. In Deutschland machte Maryam Abitur, studierte in Österreich und England Politikwissenschaften. Seit 2008 war sie regelmäßig in Afghanistan, davon drei Jahre als Mitarbeiterin der deutschen Entwicklungsagentur GIZ. 2018 gründete sie die Organization for Social Research and Analysis (OSRA) mit, die Meinungsumfragen, Risikoanalysen und datenbasierte Forschung durchgeführt hat. Die meisten Mitarbeiter waren sogenannte „Ortskräfte“.
Du hast noch vor wenigen Wochen versucht, nach Afghanistan zu reisen, um dir ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Es war dann doch zu gefährlich. Sind viele deiner Kollegen noch in Afghanistan?
Die meisten meiner männlichen Kollegen sind ausgereist, nach Pakistan, Tadschikistan oder in die Vereinigten Emirate, nur zwei sind in Deutschland. Sechs Kolleginnen bleiben noch in Afghanistan.
Bist du von der deutschen Politik enttäuscht?
Die deutsche Regierung hat noch vor der Übernahme der Taliban so wenig Ortskräfte wie möglich rausgeholt. Danach war es eh zu spät und sehr chaotisch. Anträge von gefährdeten Mitarbeitern wurden über längere Zeit nicht bearbeitet, sie wurden in Ungewissheit gelassen, ob sie nach Deutschland kommen dürfen oder nicht. Diese Stimmung kam vor allem aus dem Innenministerium, dort wird entschieden, wer nach Deutschland kommen kann. Und das war ein CSU-Ressort. Kurz bevor Kabul gefallen ist, gab es in Doha ein geheimes Treffen zwischen den Taliban und Vertretern des deutschen Außenministeriums. Man wollte versuchen, die Taliban zu überzeugen, eine Amnestie für die Ortskräfte aussprechen. Die Taliban sagten: Wir werden diesen Leuten nichts tun, wenn sie einen Reue-Eid leisten. Da wurde kein Konsens gefunden.
Die Taliban gaben dann doch eine solche Zusicherung.
Aber in der Realität sieht es ganz anders aus: Sie holen die Leute, verhören sie, schlagen sie, zwingen sie zu solchen Aussagen. Es gibt viele Berichte, dass Afghanen, die für westliche Organisationen gearbeitet haben, spurlos verschwinden.

In den letzten zwanzig Jahren haben sich die Taliban scheinbar um einiges verändert. Die Mitteilungen ihrer Führung hören sich nicht mehr so militant an, sie deuten an, dass sie für Afghanistan ein System nach iranischem Vorbild anstreben. Und einige westliche Analytiker meinen, dass es den Vorstellungen der afghanischen Bürgerinnen und Bürger entspreche.
Das ist bestenfalls Wunschdenken. Afghanistan ist eine konservative Gesellschaft, aber die Taliban sind Ultraextremisten. Vergleichen mit den Taliban sind die iranischen Mullahs in Sachen Bildung und soziale Stellung der Frauen viel fortschrittlicher. In unseren Umfragen ging es auch darum, welche Regierungsform sich die Leute wünschen. 2020 haben nur 4,2% gesagt, dass sie Islamisches Emirat wollen – dieser Ausdruck steht für die Herrschaft der Taliban. 72% wollten, dass Afghanistan eine Islamische Republik bleibt. Die gleiche Umfrage im Frühling 2021 zeigte, dass der Rückhalt für die westlich unterstütze Regierung zwar auf 46% gesunken war, weil die Leute frustriert über die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Sicherheitslage waren. Doch bei aller Frustration waren immer noch nur 5,7% der befragten für das Emirat.
Was waren das für Umfragen?
Wir haben repräsentative Umfragen mit circa fünftausend Teilnehmern aus ganz Afghanistan geführt. Wie haben eine Technologie entwickelt, wie wir nach Zufallsprinzip Menschen aus allen Provinzen über Mobiltelefone erreichen.
Wie viele Menschen haben in Afghanistan ein Handy?
Circa 22 Millionen.
Das ist etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Wer besitzt Handys in Afghanistan?
Männer besitzen Handys drei Mal so oft wie Frauen, entsprechend war der Geschlechteranteil bei unseren Umfragen. In vielen Haushalten gibt es aber nur ein Handy pro Haushalt. Das Problem ist, dass man die genaue Bevölkerungszahl in Afghanistan nicht weißt, man geht von 30 bis 40 Millionen aus. Das sind aber Schätzungen der Vereinten Nationen. Jede afghanische Regierung hat bisher Volkszählungen verhindert, weil sie das Narrativ von der paschtunischen Mehrheit im Land gefährden. Nach unseren Daten gibt es in Afghanistan keine absolute Mehrheit irgendeines Volkes. Die Paschtunen stellen irgendwo zwischen 35 und 40 Prozent, die Tadschiken 33 bis 37 Prozent, die Hazara liegen bei 9 bis 11 Prozent, dann kommen die Usbeken, Turkmenen und andere kleinere Volksgruppen, davon gibt es ja viele.
Afghanistan hat eine der weltweit höchsten Analphabetenraten. Wie gut sind die Leute über die Lage im Land informiert, wie funktioniert dort die Meinungsbildung?
Die afghanische Medienlandschaft hat sich in den letzten 20 Jahren extrem entwickelt, vor allem soziale und audiovisuelle Medien, also Fernsehen, Radio. Nachrichten und politisch kritische Sendungen waren sehr präsent und auch sehr leicht zugänglich. Der Sender ToloNews ist eine Art afghanisches CNN gewesen, mit Nachrichten und Politiksendungen 24 Stunden am Tag. Es gab politische Talkshows, wo der Moderator dem Präsidenten und seinen Ministern Fragen gestellt hat, von den sie oft einfach mumm wurden, und das wurde von Millionen Afghanen geschaut. Es gab auch Privatsender, das war eine sehr diverse und pluralistische Medienlandschaft. Heute ist es leider nicht mehr der Fall. Aber ich muss sagen, ich finde es sehr mutig von den afghanischen Journalisten: Die Berichterstattung, die sie machen, ist immer noch zum Teil talibankritisch.
Du sagst, die Gesellschaft habe die Taliban nicht unterstützt, die Medien auch nicht. Und trotzdem konnten die Taliban das Land sehr schnell einnehmen. Die Armee hat so gut wie keinen Widerstand geleistet. Siehst du da keinen Widerspruch?
Die afghanische Armee wurde zwischen 2001 und 2020 nach dem Nato-Modell aufgebaut. Sie war sehr stark auf die Unterstützung aus der Luft angewiesen. Das war ein Teil des Gesamtkonzepts und einer der Hauptgründe, warum die Armee letztendlich in sich zusammenfiel. Der Todesschuss war das Abkommen der Vereinigten Staaten mit den Taliban vom Februar 2020. Danach stellten die Amerikaner ihre Luftunterstützung fast komplett ein. Zudem wurden die afghanischen Soldaten schon Monate vor dem Fall von Kabul nicht mehr bezahlt. Ohne Nachschub und Luftunterstützung standen viele vor der Alternative: Entweder für eine aussichtslose Sache kämpfen und sterben, oder kapitulieren und leben.
Die afghanische Armee hatte aber eigene Hubschrauber.
Und die häufigste Google-Suche aus Kandahar in diesem Sommer war „how to fly a Blackhawk“. Es gab eine kleine afghanische Luftwaffe, aber sie wurde vor allem für die Rettung der Verletzten eingesetzt. Außerdem haben die Taliban in den letzten zwei Jahren gezielt afghanische Piloten ausspioniert und getötet. So wurden circa 20 von insgesamt circa 120 Piloten umgebracht. Es gab auch nicht genug Leute, die man zu Piloten hätte ausbilden können. Das hatte nicht zuletzt mit dem Mangel am Vertrauen zu tun, es gab zu viele green on blue attacks, also wenn afghanische Soldaten auf ihre Nato-Ausbilder oder Soldaten geschossen haben. Es gab natürlich Taliban-Infiltrierte, aber es gab auch einfach junge Soldaten, die Familienmitglieder im Krieg verloren und die Amerikaner dafür verantwortlich gemacht haben. Der Krieg zwischen 2001 und 2019 wurde zum größten Teil im Süden und Osten geführt, und ausgerechnet dort wurde auch die Mehrheit der afghanischen Soldaten rekrutiert. Die Mehrheit der Afghanen glaubte ohnehin, dass die westlichen Truppen den Krieg ausgelöst hätten, und waren deswegen für deren Abzug. Das haben wir bei unseren Umfragen gesehen.
Der Krieg hat aber noch in den Siebzigerjahren mit einem Staatsstreich und dem sowjetischen Einmarsch angefangen. Mitglieder deiner Familie hatten dabei eine zentrale Rolle gespielt. Wie sind sie damit umgegangen?
Mein Vater und meine Großmutter haben eingesehen, dass in den achtziger Jahren vieles auf der militärischen Ebene schiefgelaufen war. Ihre politische Überzeugung, die sozialistisch geprägt war, haben sie nicht infrage gestellt. Sie haben sich in der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges eindeutig positioniert. Aber niemand hat diesen Horror kommen sehen, auch sie nicht. Sie haben vieles gerechtfertigt mit guten Intentionen, was ich finde, nicht ausreicht. Aber sie sagten: wir haben Bildungsbürgertum geschaffen, das Afghanistan und die Welt anders gesehen hat, das andere Ambitionen für das Land hat, das es hätte voranbringen können. Sie hatten aber auch diese Einstellung, dass die ganze Welt gegen sie war: Der Westen hat die Mudschaheddin und alle möglichen islamistische Gruppierungen in Afghanistan unterstützt, um sie zu Fall zu bringen, und sehet mal, wohin es alles geführt hat.
Präsident Babrak Karmal, mein Onkel, er ist 1997 gestorben. Soviel ich weiß, hat er immer geglaubt, dass die Sowjetunion und Russland die afghanische Linke, die damalige politische Elite und das Bildungsbürgertum im Stich gelassen hat. So wiederholt sich die Geschichte. Die heutige afghanische Elite sieht sich ebenfalls im Stich gelassen, diesmal aber von dem Westen und den USA.
Du sagst oft: „Elite“. Wie elitär habt ihr in Kabul gelebt? Hattet ihr ein großes Haus?
Wir wohnten in den Microrayons, das waren vierstöckige Plattenbausiedlungen, die als Teil der sowjetischen Infrastrukturprojekte in den 1960ern gebaut worden waren. Viele, vor allem junge Regierungskader, haben dort gewohnt, die Gesellschaft war in dieser Hinsicht sehr egalitär, es gab niemanden, der wirklich reich war. Meine Eltern hatten zwei nebeneinander liegende Wohnungen gekauft, die eine hatte zwei Zimmer, die andere vier, und da hatten sie einfach die Mittelwand weggemacht.

Wie gut kannst du dich an deine Kindheit erinnern?
Sehr gut. Sie war voller Angst. Das waren ja die Spätachtziger. Die Sowjetarmee war 1989 abgezogen. Die Situation fing an, sich in den Großstädten extrem zu verschlechtern. Kabul wurde täglich mit Raketen und Mörsergranaten beschossen, die sind willkürlich überall gefallen. Heute weiß man, dass es im Durchschnitt 28 Angriffe am Tag gab. Ich habe selbst als Fünfjährige zwei Mal so einen Raketenanschlag miterlebt. Meine Mutter wurde bei einem schwer verletzt, seither ist sie querschnittsgelähmt.
Wie ist es passiert?
Sie war bei der Arbeit, sie war Dozentin an der soziologischen Fakultät. Da waren insgesamt fünf Leute. Zwei sind vor Ort und zwei im Krankenhaus gestorben, meine Mutter war die Einzige, die es überlebt hat.
Wie ist sie damit klargekommen? Ist sie überhaupt damit klargekommen?
Das nenne ich Relativierungsmentalität. Gibt es oft, wenn man in einem Konflikt-, Krisen-, oder Kriegszustand lebt. Das ist eine Überlebensstrategie. Meine Mutter sagte: ‘ich bin nicht die Einzige, alle leiden, es gibt so viele andere, uns geht’s ja noch gut‘. Damit bin ich aufgewachsen. “Wir sind doch die Privilegierten, also beschwert euch nicht‘. Was ja auch zum Teil stimmte. Nur, ich finde, psychisch war ich definitiv nicht privilegiert, weil ich in einem zu jungen Alter zu viel mitbekommen habe, was ich nicht verarbeiten konnte, was mich mein Leben lang geplagt hat. Jetzt aber weniger.
Was hat dich besonders geplagt?
Kriegstraumata. Ich wurde vor drei Jahren mit der posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert. Die ganzen Selbstmordattentäter, Raketen, Schüsse, also, alles, was ich in den letzten Jahren in Afghanistan miterlebt habe, hat zu einer Retraumatisierung geführt. Ich hatte extreme Angstzustände, Panikattacken, nicht so sehr in Afghanistan, aber sobald ich wieder in Deutschland war. Ich habe dann eine Trauma-Therapie gemacht, das hat mir sehr geholfen.
Warum musstest du überhaupt wieder nach Afghanistan gehen?
Identitätskrise! Ich bin das erste Mal 2008 wieder nach Afghanistan gereist. Ich war 23, mein Vater war zwei Jahre zuvor gestorben. Ich war da schon acht Jahre in Deutschland, davor siebeneinhalb Jahre in Indien und sieben Jahre in Afghanistan. Ich wüsste nicht, wo ich hingehöre. Die Frage “wo kommst du her?” hat mich immer irritiert. Ich kannte drei Länder und Kulturräume intuitiv, aber die Erwartungshaltung war immer nur eins, “das Eigentliche”, “das Ursprüngliche” zu nennen. Damit bin ich einfach nicht klargekommen, ich dachte, dass etwas mit mir nicht stimmen würde. Deshalb bin ich das erste Mal nach Afghanistan gereist. Sechs Wochen war ich dort mit einer Freundin der Familie unterwegs, vor allem auf dem Land, und nur vier Tage in Kabul. Und das war ein Kulturschock. Ein Riesenkontrast zu dem nostalgischen Bild, was meine Eltern mir vermittelt haben.
Was hat dich besonders schockiert?
Anfangs, die Blicke der Männer. Vor allem in den Großstädten. Es war so, als wenn sie einen durchbohren könnten, wäre ich wie ein Sieb. Ich habe mich so erschrocken, dass ich manchmal dachte, ich wäre nackt. Obwohl ich verschleiert war, nur mein Gesicht war offen. Die Blicke waren einerseits extrem penetrant und sexualisiert, andererseits aber auch voller Faszination, erstaunen und schock wie bei einem Kleinkind. Sie waren sehr ungewöhnlich für mich, vor allem bei erwachsenen Männern. Ich habe mit der Zeit gelernt, mit diesen Blicken freundlich, aber selbstbewusst umzugehen. Ich habe verstanden, dass diese Blicke schnell ihre Bedrohung verlieren, sobald sie auf eine selbstbewusste Frau trafen.
Und in den Dörfern?
Auf dem Land ist es viel angenehmer. In den ländlichen Gebieten ist Vollverschleierung sowieso nicht üblich. Frauen müssen auf dem Land arbeiten und können das nicht vollverschleiert. In den meisten islamischen Ländern ist die Vollverschleierung vor allem ein urbanes Phänomen, weil man in der Stadt, wo es so viele Menschen gibt, glaubt, die Frau behüten zu müssen.
Wie war es für dich, diese Verschleierung zu tragen?
Es hat mich schon genervt, aber nicht die Verschleierung als solche. Die Ungleichberechtigung von Mann und Frau, damit bin ich nicht aufgewachsen. Ich habe einen älteren Bruder und ich habe nie gespürt, dass er Sachen machen kann, die ich nicht machen durfte. Als wir nach Deutschland kamen, haben mich meine Eltern beim einen Schwimmverein angemeldet, für mich und meine Cousinen war es no big deal, auf einen Schulausflug mitzugehen oder Jungs als Freunde zu haben. Für andere Familien war es aber ein großes Thema. Ich bin sehr schnell aus meinem linken afghanischen Milieu rausgekommen, und da habe ich gehört, was die Leute von afghanischen “Kommunisten” halten: die Gottlosen, die haben ihre Frauen nicht unter Kontrolle. Wohl bedacht, niemand aus meiner Familie und Milieu hat sich als Kommunist bezeichnet. Sie haben sich als Linke gesehen.
Kennst du bei den Afghanen diese liberale Haltung in Bezug auf Frauenrechte auch außerhalb der linken Milieus?
Hauptsächlich aus Afghanistan, eher weniger aus Deutschland. Zwei Gruppen habe ich als besonders liberal erlebt: Die zurückgekehrten Diaspora-Afghanen aus den Vereinigten Staaten und aus Frankreich, und die Rückkehrer aus dem Iran. Die amerikanische und französische Diaspora hat sich in den Siebzigerjahren gebildet, dahin sind die elitären Bildungsbürger und Anhänger des früheren Königs aus Kabul ausgewandert. Die Diaspora-Afghanen aus dem Iran, sie gehören nicht zur Kabuler Elite und sind überwiegend afghanische Shiiten. Obwohl Afghanen im Iran sehr stark rassistisch diskriminiert werden, wurden viele von ihnen stark von der politischen Umwälzung des Irans und von der kritischen Haltung der Iraner gegenüber ihrer Regierung inspiriert . Es ist umso leichter, weil es keine sprachliche Barriere für sie gab: das Farsi-Irani und die in Afghanistan gesprochenen Farsi-Dari und Tajiki verhalten sich zueinander etwa so wie Deutsch und Österreichisch. Frauen aus dieser Gruppe erlebte ich als besonderes politisch aktiv, informiert und selbstbewusst, viele arbeiteten in Afghanistan bis zuletzt als Künstlerinnen, Menschrechtsaktivistinnen und Journalistinnen.
Deine Großmutter war eine wichtige Figur in der afghanischen Frauenbewegung. Was war sie aber für eine Großmutter?
(Lachend) Das ist tricky. Ich habe ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu meiner Großmutter. Zu mir war sie nicht sehr liebevoll. Als meine Mutter querschnittsgelähmt wurde, hat sie sich um mich und meinen Bruder gekümmert. Sie himmelte meinen Bruder an, er ist bei ihr aufgewachsen, als meine Mutter noch studierte, ich dagegen war das hässliche Entlein, definitiv nicht ihr Liebling. Sie war nicht die typische Großmutter, die für ihre Enkel kocht und Plätzchen bäckt. Sie hatte immer einen sehr ernsten Gesichtsausdruck und eine tiefe Zornesfalte. Sie saß entweder an ihrem Arbeitstisch voller Bücher, Notizhefte und Zettel, oder hatte Besuch, oder war in irgendwelchen Meetings. Ich habe sie erst nach 2008, also nach meiner ersten Afghanistanreise, als eine sehr charakterstarke Frau zu schätzen gelernt. Sie hatte eine harte Kindheit. Sie war zwar aristokratischer Herkunft, ist aber in sehr ärmlichen Verhältnissen ohne Vater aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitete als Putzfrau im Krankenhaus. Sie selbst musste mit dreizehn die Schule abbrechen und arbeiten gehen, weil das Geld nicht ausreichte. Mit vierzehn wurde sie an meinen Großvater verheiratet, der Arzt war und ungefähr zwanzig Jahre älter als sie. Er hat ihr erlaubt, die Schule auf Umwegen, mit Kind, zu beenden. In den 1950ern ist sie mit ihm nach Michigan und dann Chicago gegangen, hat dort eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Wie sie erzählte, war sie dort vom Rassismus schockiert, an manchen Restaurants zum Beispiel gab es Schilder: Schwanze, Hunde und Juden müssen draußen bleiben. Das hat ihren späteren politische Aktivismus sehr geprägt. Irgendwann wurde die medizinische Fakultät in Kabul für Frauen zugänglich gemacht, dann hat sie dort Medizin studiert. Als Daud Khan Premier wurde, wollte er die Vollverschleierung von Frauen abschaffen. Als erstes wurde beschlossen, dass alle Frauen, die arbeiten, nun mit einem Kopftuch arbeiten durften, und den Ganzkörperschleier ablegen konnten. Am nächsten Tag organisierte meine Großmutter - da war sie schon Oberschwester im Kabuler Zentralkrankenhaus – dass alle Krankenschwester ohne Vollverschleierung zu Arbeit erscheinen. Das war ein rebellischer Akt, und hat ihr zugleich viel Hass und Bewunderung eingebracht. Von meinem Großvater hat sie sich getrennt, als sie politisch immer aktiver wurde. Mein Großvater war apolitisch, er war gegen ihre politische Arbeit, hat sie aber lange toleriert. Er habe ihn in Erinnerung als einen ganz liebevollen Mann.
Und wie war dein Vater? Ein Zeithistoriker beschreibt ihn als Babrak Karmals „exzentrischen Bruder“. Kannst du dir vorstellen, warum?
“Exzentrisch” denke ich, weil er nicht in die Vorstellung von einem prosowjetischen afghanischen Sozialisten passte. Er war auch ein sehr neugieriger Mensch, er hat sich für alles interessiert. Als meine Mutter verletzt wurde, konnten sie afghanische Ärzte nicht operieren, und da waren wir mit ihr ein paar Monate in Indien, in Pune. In Pune gab es den Ashram von Osho, und dann hat uns mein Vater eines Tages in diesen Ashram geführt, und es kam in die Lokalnachrichten. Daraufhin kam ein Anruf aus der Botschaft in Neu-Delhi: Wie kannst du so was machen, das ist doch eine Sekte, wir wollen mit den Mudschaheddin einen Pakt eingehen, und du bist Vizepremierminister von einem islamischen Land! Mein Vater hatte bis zum Ende nach diesem Slogan gelebt: „Revolutionäre gehen nie in Rente“. Er war Marxist, Volkswirt, und identifizierte sich als Bürger der dritten Welt viel mehr als alles andere. Er sah die primäre Ursache vieler Probleme der dritten Welt im Kolonialismus, sagte aber gleichzeitig: “wir selbst sind auch für das viele Elend und Armut in unseren Teilen der Erde verantwortlich”. In Deutschland lernte ich in der Schule, dass der Sozialismus und die Sowjetunion Feinde der freien Welt waren, zuhause habe ich immer gehört, dass in der Sowjetunion soziale Gerechtigkeit herrschte, es keine solche Armut gab wie in Afghanistan und Frauen viel mehr Freiheit hatten. Ich sprach kaum Deutsch, ich war ein verwirrter Teenager, habe die Welt nicht mehr verstanden, und mein Vater, anstatt mir einfach eine Antwort zu geben, drückte mir immer wieder ein Buch in die Hand: Jawaharlal Nehrus „Briefe an Indira.“ Das hat mich immer sehr geärgert! Ich habe es erst Jahre später gelesen und war froh, dass er mir nie Antworten gab.
1992, nachdem die Regierung des Präsidenten Nadschibullah gefallen war, wart ihr wieder in Indien, und dann seid nach acht Jahren weggegangen. Warum?
Wir lebten in Indien mit der Vorstellung, dass wir bald nach Afghanistan zurückgehen, mein Vater blieb da noch bis 1994. Dann kamen die Taliban, und wir haben die Hoffnung aufgegeben. Die ersten Jahre in Indien waren aber gut, der indische Staat hat uns Schutz gegeben und finanziell unterstützt, und dann war die Congress-Regierung weg und diese Unterstützung gab es nicht mehr. Die afghanischen Islamisten waren aber schon in Indien, und sie waren ziemlich gut organisiert, für uns war es gefährlich. Einmal haben sie versucht, meinen Bruder zu entführen. Meine Mutter ist dann auch noch an Malaria erkrankt, und wir hatten kein Geld, um sie zu behandeln. Da haben meine Eltern entschieden, dass wir Indien verlassen mussten. Sie hatten europaweit einen großen Freundeskreis und meine Großmutter war schon länger in Deutschland.
War es einfach, nach Deutschland zu kommen?
Es war sehr schwierig. Viele Menschen wurden eingeschleust, wir auch. Mein Bruder und ich sind mit den Schleusern aus Tschechien zu Fuß über einen Waldweg stundenlang gelaufen. Meine Mutter, die im Rollstuhl saß, haben sie irgendwie mit der Bahn nach Deutschland gebracht. Mein Vater war schon zuvor mit einem deutschen Visum gekommen und hat Asyl beantragt, aber als wir gekommen sind, hatte er noch gar kein Asyl.
Du warst schon 15, als du nach Deutschland gekommen bist. Jetzt nennst du dich Deutsch- Afghanin. Warum eigentlich? Und wann hast du angefangen, dich so zu bezeichnen?
Erst nachdem ich andere Deutsch-Afghanen in Afghanistan kennengelernt habe. Da habe ich gemerkt, wie deutsch wir eigentlich sind. Bestimmte Charaktereigenschaften, wie die Pünktlichkeit, Planungssicherheit, Sinn für Detail und vor allem die deutsche Sprache. Aber auch, dass wir uns über banale Sachen wie Käse oder verschiedene Brotsorten lange unterhalten konnten. Das sind Sachen, die man sich angeeignet hat, wenn man in jungen Jahren nach Deutschland gekommen ist.