Der Stuss mit der russischen Sprache
- Nikolai Klimeniouk
- 21. Feb. 2015
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. März 2024
Wer Russisch spricht, ist Russe. So zumindest legitimiert Moskau seine Aggressionen gegen die Nachbarn. Waffen helfen da nicht, sondern nur eine neue europäische Sprach- und Identitätspolitik.
Veröffentlicht in FAS, 21.02.2015

Die einfache Frage, wo ich herkomme, bringt mich neuerdings in Bedrängnis. Möchte man wissen, ob ich Russe bin, habe ich Schwierigkeiten, einfach nur ja oder nein zu sagen. Ich bin in Sewastopol geboren, meine Vorfahren waren Ukrainer aus Saporischschja, Juden aus Litauen, Griechen und Deutsche von der Krim. Meine Muttersprache ist Russisch, ich ging in Moskau zur Schule, und ja, einer meiner Urgroßväter, von dem ich so gut wie nichts weiß, hatte einen russischen Familiennamen. Macht das aus mir einen Russen?
Die Idee des Russischen
Bis vor kurzem war das auch irgendwie egal - bis der sogenannte „russische Frühling“ ausbrach und die sogenannte „russische Welt“ vom Hirngespinst völkischer Träumer zur grausamen Realität wurde. Das Wort „Russe“ scheint innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation völlig unterschiedliche, teilweise entgegengesetzte Bedeutungen zu haben. Die gegenwärtige Idee des Russischen ist im Wesentlichen ein Produkt der sowjetischen Nationalpolitik, die sich mal an Sprachen, mal an Blut und Boden, mal an pragmatischen Bedürfnissen der Verwaltung orientierte. Konstant waren ihre Inkonsequenz und eine bizarre Hierarchie, in der manche Völker als eine Art von Staatsnationen galten, manche als Minoritäten, die immerhin eigene Autonomien verdienten, und manche als nicht beachtenswert. Einige wenige Ethnien waren privilegiert, für andere wiederum gab es Einschränkungen. Jeder Bürger wurde einer und nur einer Ethnie zugeordnet, es wurde in den Personalpapieren vermerkt und sollte bei allen amtlichen Anlässen angegeben werden. Wer die Möglichkeit hatte, ließ sich als Russe eintragen.
Jeder beachtenswerten Ethnie wies die Sowjetunion ein Gebiet und eine Sprache zu; die russische Sprache und das russische Volk sollten diesen Bund zu einem einheitlichen Ganzen zusammenkleistern. Alle hatten ihr eigenes Territorium, nur die Russen nicht. Sie waren überall zu Hause, ihr Nationalstaat war die ganze UdSSR. Das Wort „Russe“ bedeutete so etwas wie einen Sowjetmenschen ohne besondere Merkmale, einen, der keinen ungewöhnlichen Namen, keine Schlitzaugen, keine Adlernase besaß und keine eigene Sprache sprach, die nicht Russisch war. So hatte ich als Halbjude mit charakteristischen Gesichtszügen in der UdSSR keine Chance, mich unbemerkt unter die Russen zu mischen. Nach der Auflösung der Sowjetunion blieb diese Konstruktion in Russland bestehen, in den neu gegründeten Staaten erlebte sie aber eine Transformation. Von nun an zählte nur noch die russische Sprache.
In der Russischen Föderation leben 113 Millionen Menschen, die sich als Russen bezeichnen, und 130 Millionen, die Russisch als ihre Muttersprache angeben. Außerhalb Russlands sprechen circa 50 Millionen muttersprachlich Russisch. Sie leben in der Ukraine, in Belarus und Kasachstan, aber auch im Baltikum und in anderen europäischen Ländern, schätzungsweise mehr als drei Millionen allein in Deutschland, sowie in Israel und in den Vereinigten Staaten. Wie viele dieser Menschen sich selbst als Russen definieren, ist eine offene Frage. Der „russische Frühling“ stürzte viele von ihnen in eine ernsthafte Identitätskrise. Doch aus der Sicht der russischen Regierung, die auch von vielen Bürgern geteilt wird, sind sie alle Russen; Russland hat auf sie einen gewissen Anspruch und kann mit ihrer bedingungslosen Liebe rechnen. Auch wird jedem „Russen“ der Wunsch unterstellt, die russische Staatsbürgerschaft besitzen und in Russland leben zu wollen. Im russischen Staatssprech heißen alle ausländischen Russischsprecher „Landsleute“, unabhängig davon, wo sie leben und was sie von Russland halten.
Post-sowjetische Loyalität?
Joachim Gauck zitierte in seiner Rede anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz einen jüdischen Lehrer aus Breslau, der mitten im Weltkrieg seine Liebe und Treue zu Deutschland beteuerte: „Man muss loyal genug sein, um sich auch einer Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt.“ Heute, so Gauck, erscheint uns eine solche Loyalität fast unbegreiflich. Doch gerade jetzt denken viele Russen erschreckend ähnlich und erwarten dasselbe von allen „Landsleuten“. Wenn aber ein vermeintlicher oder echter Russe diese Erwartungen nicht erfüllt, dann heißt es, er sei verführt oder gekauft worden. Wenn so ein Mensch sich aber gar nicht für einen Russen hält, ist er ein Verräter.
Diese Haltung, latent schon seit langem vorhanden, wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine akut und gut sichtbar. Ein Freund, ein Berliner Arzt und gebürtiger Moskauer, erlaubte sich bei der Arbeit eine böse Bemerkung über Putin. Ein anderer Arzt, ein deutschstämmiger Aussiedler aus Kasachstan, erwiderte prompt: „Was hast du gegen den Mann? Er hat uns doch die Krim wiedergegeben.“
Für die Russen stellte die Ukraine schon immer ein gewisses Problem dar, das jetzt ins Zentrum ihrer Selbstwahrnehmung rückte. Dass die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine mehrheitlich zu ihrem Land und nicht zu Russland steht, war für viele Russen eine große Überraschung. Auch das russische Verhältnis zur ukrainischen Sprache ist alles andere als neutral.
Warum die Ukrainer den Russen so wichtig sind
Ukrainisch ist mit dem Russischen sehr nah verwandt, doch beider Existenzformen können nicht unterschiedlicher sein. Russisch wurde auf dem ganzen Gebiet Russlands homogenisiert, man spricht von Petersburg bis Wladiwostok mehr oder weniger gleich. Ukrainisch dagegen verfügt über eine Vielfalt von Dialekten. Russisch erfuhr spätestens seit der Zeit Katharina der Großen massive Förderung als Sprache der Bildung, Kultur und Wissenschaft, Ukrainisch wurde als hässliche bäuerliche Mundart verunglimpft, seine öffentliche Verwendung zeitweise verboten.
In den westukrainischen Gebieten, die zu Österreich-Ungarn gehörten, gab es zwar keine direkte Unterdrückung, aber auch dort lag die Pflege der Sprache in den Händen von Enthusiasten. In der UdSSR folgten einer kurzen Phase der Förderung Jahrzehnte der Russifizierung. Das regional gefärbte Russisch, das in der Ukraine gesprochen wird, gilt als verdorben. Die Vorurteile sind auch in der russischen Hochkultur von Puschkin über Bulgakow bis Nabokov und Brodsky durchaus vertreten. Demnach ist die ukrainische Kultur nichts weiter als Folklore, Ukrainisch keine wirkliche Sprache, und Ukrainer sind kein wirkliches Volk. Menschen, die renitent Ukrainisch sprechen und sich selbst für Ukrainer halten, tun das nur aus Arroganz. Und die, die sich Ukrainer nennen, obwohl sie Russisch sprechen, seien besonders schlimm. Davon gibt es aber nicht wenige. Bei Umfragen bezeichnen sich circa zwanzig Prozent der Bewohner der Ukraine als Russen; fast die Hälfte gibt Russisch als ihre Muttersprache an.
Diese Diskrepanz ist der Schlüssel zum Verstehen der modernen russischen Identität. Was meinen ukrainische Bürger, wenn sie sich Russen nennen? Was unterscheidet sie von russischsprachigen Ukrainern? Manche von ihnen mögen tatsächlich aus Russland hergezogen sein, doch meistens besteht der Unterschied lediglich in dieser Selbstbezeichnung. Sie ist vor allem ein Bekenntnis zu Russland, zum realen Staat und zu einem imaginären, in jedem Sinne grenzenlosen Reich aller Russen. In diesem Reich ist die Ukraine nur eine Provinz und ihre Unabhängigkeit eine historische Anomalie. Die russische Identität als politisches Statement ist keineswegs ein exklusiv ukrainisches Phänomen, diese Entwicklung wurde vom Verlauf der Auflösung der Sowjetunion programmiert.
Von Herrschern zu Beherrschten
Der Zerfallsprozess begann 1988 mit der Souveränitätserklärung Estlands. 1990 folgten die Unabhängigkeitserklärungen Lettlands und Litauens. Jedem, der damals diese Sowjetrepubliken bereiste, wurde sofort klar, dass deren volle Unabhängigkeit nur eine Frage der Zeit war. Doch die sowjetische Führung ließ Proteste unterdrücken, anstatt über die Bedingungen des Austritts zu verhandeln. Dabei war nach fünfzig Jahren in der Sowjetunion der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung in Estland und Lettland so groß, dass es an Tatsachenverdrehung grenzt, sie als Minderheiten zu bezeichnen. Man spricht ja auch nicht von der wallonischen Minderheit in Belgien oder von der französischen in der Schweiz. Trotzdem wurde dort dem Russischen der Amtsstatus aberkannt und vielen russischsprachigen Einwohnern die Staatsbürgerschaft verweigert.
Bei der Auflösung der Sowjetunion nach dem Putsch von 1991 folgten die meisten Unionsrepubliken dem baltischen Muster. Damit delegierten sie die Repräsentanz ihrer russischsprachigen Bevölkerung freiwillig nach Moskau. Selbst wenn mehr als ein Drittel der Einwohner Russisch sprach, verzichteten die auf politische Hoheit über ihre Sprache und Kultur. Anstatt moderne Nationen gleichberechtigter Bürger zu schaffen, schöpfen die postsowjetischen Staaten ihre Legitimation aus völkischen Theorien und ignorieren den Stand der Dinge.
Was dort eigentlich geschah, war eine Umkehrung der alten sowjetischen Hierarchien. Russisch wurde eine untergeordnete Sprache, und alle, die es sprechen, wurden von Herrschern zu Beherrschten. Die Abwertung des Russischen und eine schnelle Durchsetzung der Sprachen „staatstragender Nationen“ schienen anfangs ein sicherer Weg, sich von Moskau zu emanzipieren. Doch mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass man damit genau das Gegenteil erreichte. Die russische Führung tat recht wenig, um den vermeintlichen „Landsleuten“ zu helfen, stattdessen instrumentalisierte sie die Spannungen für ihre politischen Zwecke. Und die neuen Staaten, anstatt ihre russischsprachigen Bürger an sich zu binden, überließen sie dem Einfluss der ehemaligen Metropole. Wenn jetzt russischsprachige Kinder dort in ihren Schulbüchern lesen, dass die Hauptstadt ihres Landes Moskau heißt und der längste Fluss Wolga, dann ist es kein Ergebnis der Kulturpolitik von Russland, sondern das Scheitern der des eigenen Landes. Auch die russischsprachigen Minderheiten in anderen Ländern, etwa in Deutschland, bekamen damit keine neuen Bezugspunkte und Identitätsmodelle. Mitte der neunziger Jahre erklärte mir ein älterer Freund aus Charkiw, warum er einen Ukrainischkurs besucht: „Ich muss doch meine Muttersprache lernen.“ Heute lebt er in Berlin, schaut russisches Fernsehen und spricht von „ukrainischen Faschisten, die uns Russen töten wollen“.
Selbstbestimmung oder Manipulation?
Die russischen Medien sind gewiss einer der Gründe dafür, dass die russische Identität in solchem Maß zum Politikum wurde. Vor 25 Jahren konnte keiner ahnen, dass das Internet alle Sprecher des Russischen in einem Informationsraum verbinden und dass russisches Fernsehen im Ausland genauso leicht zugänglich sein würde wie im Inland. Neulich lernte ich eine junge Spätaussiedlerin kennen, die eigentlich allen Kriterien nach einen Musterfall der gelungenen multikulturellen Integration hätte verkörpern können. Sie ist Zahnärztin, spricht akzentfreies Deutsch und will, dass ihre kleinen Kinder mit zwei Sprachen und zwei Kulturen aufwachsen. Damit sie mehr Russisch hören, lässt sie sie russisches Fernsehen schauen. Etwa die Sendung „Gute Nacht, Kinder“, die es seit mehr als fünfzig Jahren gibt. Neuerdings aber ziehen ihre Helden, kuschelige Tierpuppen, in den Krieg oder fallen über Protestbewegungen her. In diesem Fernsehen machen Kriegspropaganda und Hetze nicht einmal vor Kindersendungen halt; den Erwachsenen trichtert es Verschwörungstheorien und antidemokratische Ressentiments ein, und selbst der Wetterbericht ist so ideologisch beladen, dass es richtig donnert.
Eine aus der Ukraine stammende Architektin, die ebenfalls in Berlin lebt und russisches Fernsehen schaut, erzählte mir voller Angst, ihre Nachbarn hätten sich schon zwei Mal wegen des Kinderlärms beschwert: „Das Jugendamt wird mir die Kinder wegnehmen!“ Horrorgeschichten über europäische Jugendjustiz gehören nämlich seit Jahren zum festen Repertoire der russischen Propaganda. In russische Sender fließen enorme Mittel, so dass ihre Programme oft teurer, unterhaltsamer und dadurch glaubwürdiger erscheinen als die Konkurrenz am Ort. Propaganda wirkt, selbst wenn sie alltäglichen Erfahrungen und dem gesunden Menschenverstand widerspricht. In Deutschland glauben ihre Opfer an Faschisten im Jugendamt, in der Ukraine an Faschisten in der Regierung und auf der Straße, im Baltikum wähnten sie in jedem Nichtrussen einen heimlichen Sympathisanten der SS. Aber vor allem glauben sie daran, dass alle und überall sie dafür hassen, dass sie Russisch sprechen und zum Land gehören, welches der Welt nach allen Erniedrigungen wieder seine wahre Größe zeigt.
Eine postkoloniale Sprache
Die europäische Kommission berät zurzeit über die Gründung eines internationalen russischsprachigen Mediums. Im Gespräch sind eine Internetseite, die russische Staatslügen kontert, und ein Fernsehsender. Doch selbst wenn man beides startet, wird es nicht genug sein. Um eine ernsthafte Alternative zu den russischen Sendern zu bieten, braucht man eine Holding mit einem starken Internetdienst, einem Radio- und einem Fernsehsender mit Nachrichten, Talkshows, Kultursendungen, einem soliden Unterhaltungsangebot und lokalen Redaktionen.
Doch viel wichtiger, als es neue Medien sind, ist eine neue europäische Politik gegenüber dem Russischen. Es ist die höchste Zeit, einzusehen: Russisch ist keine Exklusivsprache der Russen, sondern eine postkoloniale Sprache wie Englisch oder Spanisch. Nicht jeder, der Russisch spricht, ist ein Russe. Die Geburt der neuen Bürgernation in der Ukraine macht es deutlicher denn je, doch auch dort hält die politische Elite an den alten Vorurteilen fest. Belgien hat nach der Staatsgründung 150 Jahre gebraucht, um das Flämische dem Französischen gleichzustellen. Die Nachfolgestaaten der UdSSR haben mit dem Russischen nicht so viel Zeit. Ihre vielen Bürger, die Russisch sprechen, werden es weder verlernen, noch werden sie verschwinden oder nach Russland abwandern. Die politische Aufwertung des Russischen ist eine Frage der europäischen Sicherheit und wahrscheinlich des Überlebens vieler Staaten. Erst wenn aus Russen mit ukrainischen, estnischen oder lettischen Pässen russischsprachige Ukrainer, Esten und Letten werden, entsteht eine neue russische Welt. Diese russische Welt wird dann für alle Länder stehen, in denen man Russisch spricht und in denen man in der Schule Puschkin und Gogol liest, und nicht für die Einflusssphäre von Moskau, die Kämpfe im Osten der Ukraine, abgeschossene Flugzeuge und die Annexion meiner Heimat, der Krim.