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Die Teilnahmslosigkeit der Russen

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 7. Juli 2022
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 2. März 2024

Während Ukrainer sterben, sehen sich Russen, sogar Oppositionelle, Künstler und Intellektuelle als Hauptopfer des Regimes. Über die Mitverantwortung der russischen Gesellschaft.

Veröffentlicht in: FAS, 10.07.2022


Screenshot FAZ.net

Die Ukrainer könnten nicht verstehen, warum die Russen nicht auf die Straße gingen, als die ersten Raketen auf Kiew, Charkiw und Odessa fielen. Sie hätten auf große Unterstützung gehofft, gedacht, Millionen würden zum Protest aufbrechen. Natürlich verstehe man die Risiken, aber wenn es Millionen wären, hätte man den Protest nicht unterdrücken können, und der Spuk wäre längst vorbei. Jetzt aber, wo nichts dergleichen geschehen sei, habe man für die Russen lediglich Mitleid und Verachtung übrig. Das sagte die ukrainische Journalistin Anastasia Magazova, zugeschaltet live aus Kiew, bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Wie geht die russische Gesellschaft mit ihrer Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine um?“, die in Berlin stattfand. Danach redeten die russischen Teilnehmer darüber, wie gefährlich das Leben in Russland geworden sei und wie die Leute dort in ihrer gelernten Hilflosigkeit versänken. Die Antwort auf die Titelfrage schien eindeutig: Der russischen Gesellschaft ist das Geschehen in der Ukraine genauso egal wie das eigene Schicksal, der Tod der eigenen Soldaten, der Verlust der eigenen Rechte.


Es waren keine Millionen, dennoch gingen Zehntausende Russen auf die Straße, eine Rekordzahl an Menschen wurde bei den Protesten festgenommen. Sie erhielten unterschiedlich harte Strafen, manchen drohen jetzt mehrere Jahre Haft. Doch alles in allem ist der Protest gegen den Angriffskrieg kein gesamtgesellschaftliches Phänomen, und es gibt kaum gesellschaftliche Gruppen, mit der bemerkenswerten Ausnahme feministischer Aktivistinnen, die sich durch mehrheitliche Proteststimmung auszeichnen. Studentenschaft, Kultur- und Medienschaffende, schwer von den Kriegsfolgen betroffene Branchen der Wirtschaft wie etwa Tourismus oder Einzelhandel – keine Reaktion. Die regimekritische Öffentlichkeit, die sich mithilfe von VPN auf den gesperrten Plattformen wie Facebook oder Instagram immer noch austauscht, beklagt sich viel über neue Verbote und Repressalien und mindestens genauso häufig über die Sanktionen des Westens, die, so die verbreitete Ansicht, viel härter die unschuldigen Menschen träfen, als sie dem Regime schadeten.


Der Leiter des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, Lew Gudkow, berichtete jüngst über einen sich formierenden lagerübergreifenden antiwestlichen Konsens: 74 Prozent der Befragten seien überzeugt, der Westen wolle Russland erniedrigen und schwächen, wogegen nur 36 Prozent sich mitverantwortlich für den Tod von Zivilisten sehen. Die letzte Zahl ist besonders erstaunlich, denn lediglich 20 Prozent der Befragten äußerten sich gegen den Krieg. Die Unterstützung liege dagegen zwischen 81 Prozent im März und 75 Prozent im Juni.


Woher kommt die Empa­thielosigkeit der Russen?

Die Zahlenexegese ist heute eine der populären Beschäftigungen unter den regimekritischen Kommentatoren. Viele verwerfen die Ergebnisse der Meinungsforschung als nichtssagend. Nur ein Bruchteil der Angesprochenen erkläre sich bereit, an den Umfragen teilzunehmen, und diejenigen, die es doch tun, hätten zu viel Angst, um ehrliche Antworten zu geben. Daraus wird gern gefolgert, die Antikriegsstimmung sei trotz aller Evidenz in Wirklichkeit stark und das russische Volk gar nicht so schlimm, wie es die Ukrainer sehen und die Meinungsumfragen zeigen; es sei vielmehr das Hauptopfer des Regimes. Dieser Gedanke ist in regimekritischen Kreisen allgegenwärtig.


Die Verlockung ist groß, die Empa­thielosigkeit der Russen mit der Wirkung von Propaganda und Einschüchterung zu erklären, doch die Annahme zerschellt an der harten Empirie. Der Direktor der Petersburger Eremitage, Michail Piotrowski, gehört bestimmt nicht zu den ahnungslosen Propagandaopfern. In einem viel beachteten Interview der offiziösen Zeitung „Rossijskaja Gaseta“ fängt er damit an, dass er sich über die an ihn gerichteten Forderungen empört, den Angriffskrieg zu verurteilen, und endet mit einem offenen Bekenntnis zum russischen Militarismus. Wir seien alle Militaristen und Anhänger des Imperiums, sagt der Museumsdirektor, im Krieg behaupteten sich Nationen, die Ausstellungen seien auch eine Offensive, eine Art Spezialoperation (so wird in der russischen Amtssprache der Angriffskrieg genannt), damit hisse man die russische Flagge über dem Bois de Boulogne.


Der Schauspieler und Regisseur Evgenij Mironow, ein Filmstar und künstlerischer Leiter des Moskauer Theaters der Nationen, besuchte kurz nach der russischen Eroberung die komplett zerbombte ukrainische Stadt Mariupol und ließ sich ausgerechnet in der Ruine des Dramatheaters, in dem bei einem gezielten russischen Angriff mehrere Hundert Zivilisten getötet wurden, ablichten. „Ich habe gesehen, in welchem erschreckenden Zustand das Gebäude ist“, verkündete Mironow anschließend in einem Ton, als zerfalle das Wahrzeichen der ukrainischen Hafenmetropole wegen Verwahrlosung, „aber ich sprach mit den Schauspielern und verstand, wie heiß sie darauf sind, zu arbeiten.“ Piotrowskis und Mironows Zynismus hat bestimmt mit ihren illustren Karrieren in staatlichen Institutionen zu tun, aber auch mit der Erfahrung, die sie im Laufe dieser Karrieren gemacht haben: Egal, was sie tun, egal, wie unmoralisch sie sich verhalten, egal, wie laut sie das Regime unterstützen und wie stark sie mit ihm kooperieren – sie können sich immer darauf verlassen, dass sie in ihren Kreisen angesehene Menschen bleiben, mit denen die meisten gern zusammenarbeiten und denen kaum jemand einen Handschlag verweigert.


Selbstbestätigung statt Engagement

Besonders spektakulär präsentiert sich diese moralische Blindheit am Fall von Kirill Serebrennikow. Der Starregisseur genoss einst die Nähe und Unterstützung des Kreml-Ideologen Wladislaw Surkow, wurde selbst – nachdem Surkow seinen Einfluss verloren hatte – zum Opfer politischer Verfolgung, war sich aber trotzdem nicht zu schade, auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes den im Westen sanktionierten kremlnahen Oligarchen Roman Abramowitsch als einen großartigen Kunstmäzen öffentlich in Schutz zu nehmen. Das von Serebrennikow ins Leben gerufene und geleitete Gogol-Center war dabei eine der wichtigsten Plattformen der künstlerischen Freiheit und gesellschaftlicher Diskussion, zumindest in Moskau.


Nun wurde das Gogol-Center, das sich als eine der wenigen russischen Kulturin­stitutionen eindeutig gegen den Krieg positionierte, zerschlagen. Das Lamento der liberalen Moskauer darüber war so laut und omnipräsent, dass es auf Außenstehende vor dem Hintergrund des Kriegs oft als unangemessen, geradezu narzisstisch wirkte: Wie kann man einem Theater so laut nachtrauern und dabei so auffallend leise sein, wenn es um das Geschehen in der Ukraine geht? Diese Debatte veranlasste die israelische Kunsthistorikerin und Kuratorin Lola Kantor-Kazovsky zur Bemerkung, die Schließung des Gogol-Centers markiere das Ende der Theaterkultur der Putinzeit, die sich dadurch ausgezeichnet habe, selbst mithilfe der kritischen Kunst das Regime zu stabilisieren, weil sie die unzufriedenen Bürger vom aktiven Protest ablenkte. Sie hätten sich gegenseitig in ihren Werten und ihrer Haltung bestätigen können, anstatt sich politisch zu engagieren.


Die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa, die für ihr karitatives Engagement mindestens genauso bekannt ist wie für ihre Film- und Theaterrollen, ging noch weiter und stabilisierte das Regime direkt, indem sie 2012 in einer Videobotschaft dazu aufrief, Putin wieder zum Präsidenten zu wählen. Das Video löste damals in liberalen Kreisen große Verwirrung aus, schließlich galt Chamatowa hier als „eine von uns“. Letztendlich einigte man sich darauf, dass Chamatowa das Video unter Druck gedreht habe, was sie selbst allerdings immer dementierte. Als einer der größten Verdienste Chamatowas gilt der Bau einer staatlichen hämatologischen Kinderklinik, die Putin, damals Premier, 2011 höchstpersönlich einweihte. Nur ein Jahr später habe man Chamatowa aus Putins Umfeld gedroht, diese Klinik schließen zu lassen – so wurde sie angeblich erpresst, das Video zu drehen.


Prinzipien werden suspendiert

Das Regime spannte Prominente wie Chamatowa gern bei allerlei karitativen Tätigkeiten ein, die staatliche Funktionen ersetzen. Gemeinsam konnten sie an die Empathie der Bürger appellieren und so das Gefühl erzeugen, man solle vom Staat nichts einfordern, man könne etwas nur durch fügsames Betteln erreichen. Wenn es um die Sache geht, besonders um das Leben der Kinder, werden die Prinzipien suspendiert.


Nun ging die Humanistin Chamatowa ins Exil, verurteilt den Krieg und sagt Sätze wie diesen: „Ich bin überzeugt, dass russische Soldaten, die ein Theater besucht haben, sich in der Ukraine irgendwie anders benehmen. Vielleicht schießen sie daneben oder ergeben sich.“


Diese Verkehrung der Empathie ins Unmoralische ist keineswegs ein Phänomen der künstlerischen Eliten. Während des Afghanistankriegs entstand eine der nun ältesten zivilgesellschaftlichen Institutionen Russlands, die sich von unten formierte: die Bewegung der Soldatenmütter. Sie haben den jungen Männern geholfen, der Entsendung nach Afghanistan oder später nach Tschetschenien zu entkommen, engagierten sich bei der Befreiung der Kriegsgefangenen und gegen Gewalt und Missbrauch in der Armee. Die von Anfang an stark antimilitaristisch geprägte Organisation existiert immer noch, wobei sie lange nicht mehr so stark ist wie noch vor zwanzig Jahren.


Gleichzeitig formiert sich im selben Milieu eine neue Bewegung: Frauen im Alter der Soldatenmütter sammeln Spenden für die Armee. Zuerst kauften sie für die chronisch unterversorgten russischen Soldaten Nahrung, Wäsche, Hygieneartikel, jetzt sammeln sie immer öfter auch für Drohnen oder Nachtsichtgeräte. Klar, sie helfen den Soldaten zu überleben – indem sie ihnen helfen, die Ukrainer zu töten. Niemand weiß, ob diese Frauen je im Theater waren und die Lehren der Empathie aufgenommen haben. Oder ob sie, von Tschulpan Chamatowa inspiriert, bei der Präsidentschaftswahl von 2012 für Putin stimmten, der nun ihre Söhne im sinnlosen Krieg verheizt. Eines weiß man aber mit Sicherheit: Sie leben in einem Land, in dem prominente Figuren des öffentlichen Lebens in ihrer Vorbildfunktion die Kollaboration normalisierten und moralischen Relativismus vorlebten – und das auch noch als Humanismus verpackten. So kommt man vielleicht der Antwort auf die Frage nach der Mitverantwortung der russischen Gesellschaft etwas näher: Sie nimmt es nicht so genau mit der Moral.

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