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Die Ukraine ist nicht Gaza, Israel ist nicht Russland

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 23. Nov. 2023
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Aug. 2024

Auch Künstler aus der Ukraine tragen antisemitische und antiisraelische Propaganda in die Welt. Sie fallen auf ein Narrativ herein, das in Stalins UdSSR zurückreicht.

Veröffentlicht in: FAZ, 22.11.2023




Israelische Geiseln in Gaza, #BringThemHome-Poster
Screenshot FAZ.net

Vor einigen Tagen veröffentlichte eine Initiative ukrainischer Künstler, Intellektueller und Aktivisten einen Solidaritätsbrief mit dem palästinensischen Volk. Wie alle Appelle dieser Art enthält auch der ukrainische das Framing des gesamten Konflikts als Israels alleinige Verantwortung. Was den ukrainischen Brief von anderen unterscheidet und ihn dabei interessant macht, ist, dass Palästina mit der Ukraine identifiziert wird und Israel mit Russland.


Einerseits ist es besonders absurd, denn in dem einen Fall handelt es sich um einen unprovozierten Angriff auf einen souveränen Staat, im anderen um einen langwierigen Konflikt mehrerer Parteien, in dem es viel gegenseitige Gewalt und Ungerechtigkeit gab. Und doch sind sich die antiisraelische und die antiukrainische Propaganda sehr ähnlich, weil sie sich gegenseitig nähren und reproduzieren und einen gemeinsamen Ursprung haben – in Stalins UdSSR. Der ukrainische Appell enthält die vier Hauptelemente dieser Propaganda.


1. Delegitimierung durch eine frei erfundene alternative Geschichte und „rote Herringe“ – unbegründete Anschuldigungen, die endlos wiederholt werden und dadurch Wirkung zeigen. Im Falle Israels ist dies die Formel „Siedlerkolonialismus, Genozid und Apartheid“. Im Vergleich dazu wird die Ukraine als eine künstliche Erfindung (etwa von Lenin) dargestellt; hinzu kommen Vorwürfe der Diskriminierung von Russen und ebenfalls des Genozids, so grotesk sie auch sein mögen. Putin unterstellte der Ukraine einen Genozid am russischen Volk mit der Begründung, wenn die Ukrainer sich nicht mehr Russen nennen wollten, dann werde das russische Volk um mehrere Millionen Menschen kleiner. Das Jonglieren mit Namen gehört auch dazu: Ukraine als Peripherie, „Okraina“, Palästina als das gesamte Gebiet „vom Fluss bis zum Meer“.


2. Instrumentalisierung der dunklen Seiten der Geschichte, um den modernen Staat zu delegitimieren. Im Falle Israels etwa: die Beteiligung der Rechtsextremen an der zionistischen Bewegung, die Gewalt gegen die arabische Bevölkerung während der Gründung Israels und des ersten Arabisch-Israelischen Krieges, der Terrorismus als Teil des Unabhängigkeitskampfes. Im Falle der Ukraine: Stepan Bandera, die ukrainische Einheit der Waffen-SS, Massaker an den Polen in Wolhynien.


3. Instrumentalisierung interner Kritik (der Kritik durch die politische Opposition und die Medien als auch der marginalen Kritik durch Radikale) zur Delegitimierung des Staates.


4. Einsatz von Desinformation und Faktenverdrehung, um Verantwortung vom Täter auf das Opfer zu verlagern.


Das grundlegendste Element, mit dem Israel diffamiert wird, ist der Vorwurf, es handele sich um ein „Projekt des imperialen Siedlerkolonialismus“. Dabei leben Juden seit mehreren Tausend Jahren ununterbrochen auf dem Gebiet des heutigen Israels, Jerusalem wurde von Juden als Hauptstadt eines jüdischen Staates erbaut. Auch nach der Vertreibung blieben einige Tausend von ihnen in Jerusalem, welches im 19. Jahrhundert eine recht kleine Stadt wurde.


Es waren die kolonisierenden Imperien, die die Juden aus ihrem Land vertrieben. Dennoch blieb eine beträchtliche Anzahl von Juden in der Region; Zehntausende lebten bis vor Kurzem in Ägypten und in den heutigen Ländern Syrien und Libanon, während andere über den gesamten Nahen Osten und weit über ihre historische Heimat hinaus verstreut waren. Sie waren Verfolgung, Diskriminierung, Vertreibung und physischer Gewalt ausgesetzt (wenn auch mit unterschiedlicher Intensität in verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeiten), und nirgendwo bekamen sie angemessenen Schutz von den Staaten, in denen sie lebten.


Der Zionismus entstand im 19. Jahrhundert als eine von vielen nationalen Bewegungen – wie die tschechische, ukrainische oder lettische. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass die europäischen Nationalbewegungen die Emanzipation ihrer Völker in ihren Territorien und deren Befreiung von den Imperien – dem österreichisch-ungarischen, russischen, osmanischen, deutschen – anstrebten, während die Juden sich zunächst in ihrer historischen Heimat wieder ansiedeln mussten. Diese war damals Teil des Osmanischen Reiches.


Zu diesem Zweck begannen die Juden, Land zu kaufen – offen, legal und ohne zu verbergen, warum sie dies taten. Auslöser für die massenhafte Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat (Alija) waren Pogrome, die im 19. Jahrhundert im Russischen Reich begannen, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders gewalttätig wurden. Es gab damals auch eine massive Auswanderung nach Amerika, es war für Juden im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast der einzige relativ sichere Ort.

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Osmanische Reich seine Kolonien, und die als Palästina bezeichnete Region wurde vom neu gegründeten Völkerbund unter die Verwaltung (Mandat) des Britischen Empire gestellt. Eines der Ziele des Mandats war es, das Gebiet bis zur Schaffung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ zu regieren. Die zionistische Führung im britisch regierten Palästina war weitgehend linksorientiert und strebte eine friedliche Koexistenz mit den Arabern an. Es wurden verschiedene Projekte diskutiert, wie eine solche Koexistenz aussehen könnte. Die Israel oft unterstellte Absicht, die Araber zu vertreiben, wurde nur von rechten Randgruppen vertreten.


Zur gleichen Zeit entwickelten sich der arabische Nationalismus und die panarabische Bewegung, die die Vorherrschaft in der Region anstrebten. Dies war einer der Gründe, warum, nachdem die Vereinten Nationen 1947 einen Plan zur Teilung des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina in zwei Staaten, einen arabischen und einen jüdischen, verabschiedet und Israel 1948 seine Unabhängigkeit erklärt hatten, einen Tag später eine Koalition arabischer Staaten Israel angriff.


Israel war damals schwach, dennoch gelang es ihm, seine Unabhängigkeit zu verteidigen. Israel annektierte einige der Gebiete, die die UN dem arabischen Staat zugewiesen hatten, Jordanien annektierte das Westjordanland, und Ägypten besetzte den Gazastreifen. So blieb es bis zum Sechstagekrieg 1967. Im Schreiben der ukrainischen Intellektuellen, wie in anderen Texten dieser Art, wird behauptet, das Volk von Palästina stehe seit 75 Jahren unter israelischer Besatzung. Dies ist faktisch unwahr. Außerdem hat sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Eine solche Formulierung impliziert, dass allein schon die Tatsache, dass Israel existiert, eine Besetzung Palästinas darstellt.


Während des Ersten Arabisch-Israelischen Krieges gab es einen Massenexodus der arabischen Bevölkerung aus Israel, die sogenannte Nakba, die Katas­trophe. Die Behauptung, dass alle Araber vertrieben wurden, ist dennoch falsch. Es wird durch keine seriöse historische Forschung belegt, dass die zionistische Führung plante, die Araber zu vertreiben. Im Gegenteil, aus freigegebenen Regierungsunterlagen geht hervor, dass Ben-Gurion den Terror gegen die arabische Bevölkerung durch einzelne Einheiten verurteilte. Für den Exodus gab es mehrere Gründe. Neben der unbestrittenen Gewalt seitens der Israelis gab es Angst und Aufrufe aus arabischen Ländern, das Kriegsgebiet vorübergehend zu verlassen. Die Angreifer gingen davon aus, sie würden schnell gewinnen und die Araber könnten nach dem Krieg in ihre Häuser zurückkehren. Diejenigen, die blieben, wurden Bürger Israels und haben die gleichen Rechte wie alle anderen Bürger Israels. Es gibt in Israel keine „Apartheid“.


Eine weitere Folge der Gründung Israels war der Exodus der Juden aus den Ländern des Nahen Ostens, der zahlenmäßig mit dem arabischen Exodus aus Israel und Palästina vergleichbar ist. Auch hier spielten mehrere Faktoren eine Rolle, sowohl Gewalt und Vertreibung als auch die Anziehungskraft Israels als Heimat für alle Juden. In einigen Ländern schrumpfte die jüdische Bevölkerung von Zehn- und Hunderttausenden auf null. Im 20. Jahrhundert waren Verschiebungen der Bevölkerung infolge des Zusammenbruchs von Imperien und Kriegen eine allgemein verbreitete Praxis. Der „Bevölkerungsaustausch“ zwischen der Türkei, Griechenland und Bulgarien betraf Millionen von Menschen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 12 bis 14 Millionen Deutsche aus Mittel- und Osteuropa vertrieben, bis zu 1,7 Millionen wurden getötet oder starben im Zuge von Deportation und Flucht. Die UdSSR vertrieb Polen, Rumänen, Ungarn und andere Bevölkerungsgruppen aus den annektierten Gebieten, die heute Teil der Ukraine, von Belarus und der baltischen Staaten sind. Bei der Gründung von Indien und Pakistan wurden Millionen von Menschen verdrängt.


In all diesen Fällen wurden die Vertriebenen und Geflüchteten von den Nationalstaaten, in denen sie sich befanden, als Bürger akzeptiert. Die einzige Ausnahme bildeten die Araber aus Palästina, für die die UN einen Sonderstatus als Erbflüchtlinge schufen, während sich die meisten arabischen Länder, in denen sich die palästinensischen Flüchtlinge aufhielten, weigerten, sie einzubürgern. Ihr Schicksal wurde als Waffe gegen Israel eingesetzt und der Konflikt so absichtlich verlängert.


Die UdSSR war maßgeblich an diesen Entscheidungen beteiligt. Zunächst unterstützte sie die Gründung Israels, weil die Linke die zionistische Bewegung dominierte und Stalin glaubte, einen Marionettenverbündeten zu bekommen. Als Israel dann Verbündeter der USA wurde, begann die UdSSR, es aktiv zu bekämpfen – auf diplomatischem Weg, durch militärische Hilfe für arabische Länder, durch Unterstützung palästinensischer Terrororganisationen und durch Propaganda. Diese Propaganda ist es, die heute in so vielen Solidaritätsschreiben mit Palästina nachhallt.

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