Die Verteidiger russischer Kultur in Cannes
- Nikolai Klimeniouk
- 22. Mai 2022
- 3 Min. Lesezeit
Beim Festival von Cannes traten auch die Verteidiger der vermeintlich von allen Seiten bedrohten russischen Kultur auf. Der Regisseur Kirill Serebrennikow meinte sogar, den Milliardär Roman Abramowitsch rehabilitieren zu müssen.
Veröffentlicht in: FAS, 28.05.2022

Im Wettbewerb von Cannes lief der russische Film „Tschaikowskis Frau“, der Regisseur Kirill Serebrennikow gab eine Pressekonferenz und verkündete, die russische Kultur werde überall verboten, das dürfe nicht passieren. Sie zeichne sich doch durch ihr Interesse für das Leben der kleinen Leute aus, das mache sie so humanistisch. Der Titelheld von Serebrennikows Film ist nicht gerade ein kleiner Mann, doch Serebrennikow merkte nicht, wie unfreiwillig komisch er klang, und fuhr unbeirrt mit seinem Plädoyer für kleine Leute fort: Man solle die Sanktionen gegen den Milliardär Roman Abramowitsch aufheben, er führe für Russland Friedensverhandlungen mit der Ukraine, sei ein wichtiger Kunstmäzen und finanziere unabhängiges Kino. Die Sanktionen gegen Abramowitsch wurden wegen dessen Kremlnähe verhängt, er galt sogar lange Zeit als eine der Schlüsselfiguren, um den Einfluss des Kremls im Westen zu etablieren.
Die Präsidentin der Europäischen Filmakademie, die Polin Agnieszka Holland, hatte die Entscheidung des Festivals als unpassend kritisiert, einen russischen Film während des russischen Angriffskriegs am Wettbewerb teilnehmen zu lassen. Nun bestätigte Serebrennikow, dass auch ihm der Sinn für das Passende vollständig fehlt. Man solle Mitleid mit den angegriffenen Ukrainern haben, sagte er, aber auch mit den Familien russischer Militärs, die ihre Hauptverdiener verloren hätten. Es sei Aufgabe der Kultur, sie zu unterstützen.
In diesen Tagen passiert es eher selten, dass die ukrainische und die russische Kulturöffentlichkeit sich über dieselben Sachen empören. Das war einer dieser seltenen Momente. Dabei richtete sich der Unmut der Ukrainer vor allem gegen das Festival, welches solche Situationen erst möglich gemacht hat; an die Empathielosigkeit der prominenten Russen haben sich die meisten Osteuropäer längst gewöhnt. Die oppositionellen Russen dagegen sind enttäuscht von Serebrennikow, der immerhin, trotz seiner engen Beziehungen zu den Mächtigen, selbst Opfer politischer Verfolgung wurde. Dass er sich nun für den verhassten Putin-Verbündeten Abramowitsch einsetzt, empfanden viele als eine unzulässige Grenzüberschreitung.
Die Verteidigung der vermeintlich von allen Seiten bedrohten russischen Kultur kommt in den russischen Kulturkreisen dagegen sehr gut an. Entsprechend begeistert wurde die Rede des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa aufgenommen, die er ebenfalls in Cannes hielt, wo er mit dem France Culture Preis ausgezeichnet wurde. Es gebe eine Frontlinie, verkündete Loznitsa auf Russisch, die verlaufe zwischen denen, die die russische Kultur ganz canceln wollen, und denen, die gegen Boykotte seien. Im Februar ist er aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten, weil diese sich seiner Meinung nach nicht deutlich genug mit der Ukraine solidarisiert habe, kaum ein Monat später warf ihn die Ukrainische Filmakademie raus, wegen seiner Opposition gegen den Boykott der russischen Filme durch die Europäische Filmakademie. In der Ukraine ist der Regisseur ohnehin sehr umstritten, man sieht ihn als eine Art Relikt des russisch-imperialen Erbes an. Warum, macht er selbst deutlich, wenn er nun in Cannes die großen Errungenschaften der russischen Kultur in der Ukraine lobt und seine ukrainischen Kollegen mit dem russischen Geheimdienst FSB vergleicht, während ebenjener FSB Aktivisten in besetzten ukrainischen Städten entführt.
Derweil sehen die echten Nachrichten von der vermeintlichen Front gegen die russische Kultur so aus: Der russische Schriftsteller Michail Schischkin erhält den italienischen Literaturpreis Premio Strega Europeo, das Deutsche Theater zeigt Kirill Serebrennikows Decamerone, und die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres russischen Chefdirigenten Kirill Petrenko, der sich löblicherweise an solchen Diskussionen nicht beteiligt, spielen die Werke von Lyadow, Rachmaninow und Mussorgsky.