top of page

Ein Jahr in Mariupol

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 23. Dez. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Die russische Armee hat Mariupol ausradiert. Vor einem Jahr gab es dort friedliche Weihnachten. Bilder zeigen, was verloren ging. Die Besatzer planen eine neue Stadt – sie soll mit der Ukraine nichts zu tun haben.

Veröffentlicht in FAZ, 23.12.2022


Weinnachtstdekotarion in Mariupol, 2021
Screenshot Faz.net

Im Dezember 2021 kam der Platz vor dem Drama-Theater von Mariupol für einen kurzen Augenblick in die ukrainischen Nachrichten. Der feierlich beleuchtete, vierzehn Meter große Weihnachtsbaum wurde von einer heftigen Windböe umgeworfen. Verletzt wurde niemand. Einige Bürger, meldeten die lokalen Medien empört, hätten im Vorbeigehen den Schmuck gestohlen. Dieser Baum wird aber trotzdem noch lange im kollektiven Gedächtnis der Ukraine bleiben. Er steht nämlich im Zentrum jener inzwischen berühmten Fotos und Videos, die das festlich dekorierte, vom warmen Licht geflutete Stadtzentrum von Mariupol zeigen, eine verschneite Märchenstadt.


Vor einem Jahr war die Hafenmetropole am Asowschen Meer damit beschäftigt, sich neu zu erfinden. 2021 gewann Mariupol den Titel der Großen Kulturhauptstadt der Ukraine, eine Art Vorstufe zur Kulturhauptstadt Europas. Der Bürgermeister Wadim Boj­tschenko sprach über die einigende Rolle der Kultur. Zum Jahresende bewarb sich die Stadt um den Nationalen Tourismuspreis in sieben verschiedenen Nominierungen, vom leckersten Restaurant-Borschtsch über den besten Tourismusblogger bis hin zum besten Naturpark. Doch da ging Mariupol leer aus, der Weg von einer umweltbelasteten Industriestadt zum Ferienparadies war noch weit. Das waren die Sorgen der Friedenszeiten.


Jetzt spricht Bojtschenko bei den Eröffnungen von Hilfszentren für die Geflohenen aus Mariupol in unterschiedlichen Städten der Ukraine. Er selbst soll die Stadt noch vor Beginn der Belagerung verlassen haben, was ihm viele Mitbürger sehr übelnahmen. Von den einst 530.000 Einwohnern sind nach Angaben der ukrainischen Behörden etwa 120.000 in Mariupol geblieben. Die Todesopfer der dreimonatigen russischen Blockade werden auf 20.000 bis über 100.000 geschätzt; eine genauere Zahl wird sich erst nach der Befreiung ermitteln lassen. Laut Stadtverwaltung seien dort rund 90 Prozent der Gebäude durch den russischen Dauerbeschuss zerstört worden, 40 Prozent der Wohnhäuser irreparabel. Die Fotos, die nach der Einnahme der Stadt durch russische Truppen aufgenommen wurden, zeigen eine dystopische Trümmerlandschaft. Und mitten in diese verbrannte Ruinenstadt knallten die Besatzer Neubaublöcke hin, wo sie ihre mitgebrachten Verwaltungsmitarbeiter und besonders verdiente örtliche Kollaborateure einquartieren.


Die Bilder dieser Neubaublöcke wurden von den Ukrainern in den sozialen Medien mit endlosem Spott überzogen. So werde in der Ukraine nicht gebaut, dicht an dicht, kasernenhaft, lieblos. Bei uns dagegen baue man menschenfreundlich, ausladend, mit viel Grün zwischen den Häusern. Auch wenn es in der Realität nicht unbedingt stimmt, spiegelt es die aktuelle Selbstwahrnehmung der Ukrainer wider. Als Putin der Ukraine unterstellte, die „schmutzige Bombe“ zu entwickeln, eine Waffe, die radioaktives Material verstreut, löste es eine Lawine von Memes aus. Niemals würde jemand in der Ukraine auch nur auf so eine verrückte Idee kommen; eine gute ukrainische Bombe wäre nicht schmutzig, sondern putzig: strahlend sauber und zum Kuscheln gemütlich.


Seit Beginn der Invasion haben die russische Führung und Propaganda mehrere Kriegsziele formuliert, eines davon war die Auslöschung alles Ukrainischen. Das sei eine Erfindung der bösen Mächte, wer auch immer sie seien, um einen Teil vom russischen Volk abzutrennen. Dabei bewirkt der Angriffskrieg das absolute Gegenteil, er macht den Ukrainern ihre eigenen kulturellen Eigenheiten bewusst, so dass die Gesellschaft die empfundenen Selbstbilder zu höchsten Tugenden erhebt: Selbstironie und gelassenen Humor, Standhaftigkeit und Solidarität, Improvisationsstärke und Hang zur Gemütlichkeit, anarchistisches Mistrauen gegenüber der Macht und einen zunehmend staatsbürgerlich verstandenen Patriotismus, ja sogar die nie so gekannten Pünktlichkeit der Eisenbahn und Effizienz der kommunalen Dienste. Umso stärker wird der Wunsch, sich von allem Russischen abzugrenzen, seien es auch die notorisch schlechten Straßen oder exzessive Gewalt.


Nichts macht die kulturellen Unterschiede anschaulicher als das russische Gebaren in und um Mariupol. Im Sommer kam der gefeierte russische Schauspieler und Regisseur Evgenij Mironow in die besetzte Stadt, um seine Absichten zu verkünden, den Theaterbetrieb dort zu beleben. Moskauer Städteplaner legten im Oktober ihren Entwicklungsplan für Mariupol vor: Die Stadt soll Fahrradwege erhalten, das zerstörte Stahlwerk, wo das belagerte ukrainische Militär mehr als einen Monat lang Stellung hielt, soll zum Technikpark werden. Im November führte die „allrussische“ urbanistische Organisation „Städtische Renovationen“ ein Festival des „taktischen Urbanismus“ in Mariupol durch. Mit billig gebauten, aber hippen Bänken sollte die Atmosphäre in der Stadt netter und wohnlicher gemacht werden und die Kriegsschäden unsichtbar. Die Schäden am Drama-Theater, in dessen Keller bei einem Bombenangriff hunderte von Menschen ums Leben kamen, verdeckt neuerdings ein Zaun mit den Portraits der russischen Klassiker Puschkin und Tolstoi und des Ukrainers Gogol, den Russland für sich allein beansprucht. Nicht dass die russischen Besatzer ihre elitäre Hochkultur so schätzen, vielmehr schätzen sie Hierarchien. Dieses Kulturverständnis setzt voraus, dass es immer ein Oben gibt, sei es ein Genie, ein Held, ein Herrscher oder eine Instanz, die das bessere, das richtige Wissen besitzt. Diese Denkweise ist keineswegs der repressiven Macht vorbehalten. So konnten zum Beispiel oppositionelle russische Journalisten den Start eines neuen Mediums mit dem Slogan annoncieren, „Jetzt habt ihr endlich was zum Lesen“. Und in Mariupol sind Tolstoi und Puschkin endlich wieder da. Ihre Gesichter symbolisieren unmissverständlich die Unterwerfung unter die russische Gesellschaftsordnung, die Eingliederung in ihre Hierarchien.


Die so geprägte Gesellschaft sieht kein großes Problem darin, wenn einer Rebellion gegen Hierarchien mit Gewalt begegnet wird, und die schiere Existenz der Ukraine erscheint vielen Russen als eine solche Rebellion. Nichts kann weiter entfernt sein von einer Kultur, die einigt und verbindet und gerade deswegen auch aus ganz alltäglichen, profanen Praktiken besteht. In der Rede eines Politikers mag diese Formel wie eine Plattitüde wirken, sie entstammt der gelebten Realität. Zum Beispiel nationale Trachten mit gestickten Mustern, Wyschywankas. Sie werden in allen Regionen der Ukraine und von allen Schichten getragen, meistens bei besonderen Anlässen, aber auch nicht selten im Alltag, sie gibt es als Massenprodukt, traditionelles Handwerk und kreative Mode von Designerlabels. Oder Restaurants, die um den besten Borschtsch wetteifern. In einem Luftschutzbunker kann man gemeinsam singen, Volkslieder oder Werke ukrainischer Komponisten, die schon zu Volksliedern wurden. Oder einfach nur die Nationalhymne, es finden sich immer genug Leute für einen Chor. Als die ersten Videos von solchen Chören in den sozialen Netzwerken gepostet wurden, fragten sich viele Russen, ob sie auch etwas hätten, was sie in ihren dunkelsten Stunden gemeinsam singen könnten. Und stellten fest, sie hätten nichts außer Revolutions- und Kriegsliedern aus sowjetischen Filmen. Gemeinsam Puschkin rezitieren? Kaum vorstellbar. Die einzige gemeinsame und dabei relativ ideologiefreie kulturelle Praxis scheint der Kartoffelsalat zu sein, den man zur Silvesterfeier isst, aber allein schon diese Feier ist der sowjetische Ersatz für Weihnachten. Diesen Salat isst man auch in der Ukraine, aber vermutlich nicht mehr lange. Die Fernsehmoderatorin aus Mariupol Alewtina Schewtsowa, die sich um den nationalen Preis als Tourismusbloggerin bewarb, veranstaltet jetzt in Kyjiw Kulturevents. Die anstehende Diskussion hat das Thema „Mariupol, die kulturelle Deokkupation“.


bottom of page