Empathie kann auch schaden
- Nikolai Klimeniouk
- 24. Aug. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Aug. 2024
Der Gefangenenaustausch mit dem Putin-Regime gibt einer Frage neue Brisanz, die in der russischen Zivilgesellschaft schon lange diskutiert wird: Ist die Linderung von Leid wichtiger als politisches Engagement?
Veröffentlicht in: FAS, 25.08.2024

Der Austausch habe Hunderten politischen Gefangenen, die in Putins Gulag vegetieren, Hoffnung gegeben, sagte der freigelassene russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa in den „Tagesthemen“. Und er werde alles in seiner Macht Stehende tun, um sie aus den Gefängnissen herauszubekommen; darum habe er bereits Bundeskanzler Scholz und andere westliche demokratische Führer gebeten. Es gebe aber jetzt schon viel Kritik, dass sich die Bundesregierung damit erpressbar mache, erwiderte die Moderatorin Julia-Niharika Sen, und Kara-Mursas Ton wurde schroff: „Denen, die diese Kritik äußern, möchte ich mit allem Respekt sagen: Denkt bitte nicht an einen Gefangenenaustausch, sondern denkt an eine lebensrettende Operation. Denn viele von uns hätten diese Zeit, diese Bedingungen in Putins Gulag nicht überlebt“.
Die These, dass die Linderung von Leid und die Rettung von Leben alle anderen etwaigen Erwägungen übertrumpfen, hat in Russland Tradition. Als die Repressalien gegen die Teilnehmer der Massenproteste gegen die Wahlfälschungen 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichten, schrieb der liberale Journalist Walerij Panjuschkin eine Kolumne, die ungefähr so begann: Stellt euch vor, euer Bruder sitzt wegen falscher Anschuldigungen im Gefängnis und euer Kind liegt mit einer schrecklichen, lebensbedrohlichen Krankheit im Krankenhaus, wen werdet ihr besuchen? Politische Gefangene seien wichtig, argumentierte der Kolumnist, aber Kinder seien noch sehr viel wichtiger, ihr Leben zu retten überwiege alles andere. Solange es Kinder gebe, die nicht behandelt würden, könne man das Schicksal der Gefangenen vernachlässigen.
Dieser Text war Teil einer heftigen Polemik, die damals die liberalen Gemüter in Russland erhitzte. Es ging um die Frage, ob humanistisches Engagement eine Kollaboration mit dem Regime rechtfertige, ja sogar eine Beteiligung an jenen Wahlmanipulationen, gegen die man gerade protestierte. Auslöser war ein Video, in dem die Filmschauspielerin und angesehene Philanthropin Tschulpan Chamatowa zur Wiederwahl Putins aufrief. Chamatowa war Mitgründerin der Stiftung „Leben schenken“, die schwerkranken Kindern half und Kinderkliniken unterstützte. Als 2011 in Moskau ein staatliches hämatologisches Zentrum für Kinder eröffnet wurde, posierte Chamatowa bei der Eröffnungsfeier neben Putin, es hieß, sie habe die Klinik durchgesetzt. Einige Monate später kam das Video, in dem sie sagte: „Es gibt nichts Wichtigeres als das Leben von Kindern. Wladimir Putin hat seine Versprechen gegenüber unserer Stiftung immer gehalten, deshalb werde ich für ihn stimmen“. Der Schock war groß, schließlich galt Chamatowa als eine von den „Guten“. Es wurde spekuliert, das Regime habe sie mit der Schließung des Klinikums erpresst, was sie immer wieder dementierte. In einem Fernsehinterview sagte sie, ein Leben in Nordkorea sei ihr lieber als eine Revolution. Heute lebt die Schauspielerin in Lettland.
Panjuschkin, der nun ebenfalls in Lettland lebt und für Exilmedien arbeitet, war Anfang der 2000er-Jahre Starreporter bei der Mediengruppe Kommersant, die als Flaggschiff des seriösen Journalismus in Russland galt. 2005 begann er, für die hauseigene „Russländische Hilfsstiftung“ herzzerreißende Geschichten über kranke Kinder zu schreiben, die dann in der Tageszeitung und anderen Publikationen der Gruppe erschienen und immer mit einem Spendenaufruf für die Behandlung des jeweiligen Kindes verbunden waren. Das „Fundraising mit journalistischen Mitteln“, mit dessen Erfindung sich die Stiftung rühmt, wurde schon bald zum nationalen Standard, die russischen Medien aller Couleur waren voll davon. Geschichten über kranke Kinder kamen nach den Nachrichten im Staatsfernsehen, spenden konnte man per Überweisung oder ganz einfach per SMS.
Die Dauerberieselung mit den Bildern des Leidens hatte weitreichende Folgen. Ein Teil der Gesellschaft wurde in einen permanenten Erregungszustand versetzt und verspürte den Zwang, um jeden Preis etwas zu tun. So wurden viele liberal gesinnte Menschen vom politischen Engagement abgehalten und zu Kompromissbereitschaft erzogen. Die meisten stumpften einfach ab. Das Regime stellte seinerseits den Schutz der Kinder in den Mittelpunkt seiner Ideologie und begründete damit immer neue repressive Maßnahmen, seien es Einschränkungen der Pressefreiheit oder Gesetze gegen LGBT+.
Aktivisten beklagten, dass es einen harten Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Ressourcen gebe. In der Gunst der Öffentlichkeit standen Kinder vor Erwachsenen, ethnische Russen vor Minderheiten, heilbar Kranke vor Sterbenden, und so weiter. Auf der untersten Stufe dieser Hierarchie rangierten die Obdachlosen. Umso wichtiger erschien es, mit der Staatsmacht zu kooperieren, gerade wenn man sich für diese vulnerablen Gruppen einsetzte.
Dem Regime kamen solche Kooperationen sehr gelegen. Anstatt die sozialen Grundaufgaben des Staates zu erfüllen, konnte es sich als Wohltäter inszenieren und dabei das Gefühl vermitteln, dass man mit Fügsamkeit mehr erreiche als mit Protest. Die Militärausgaben stiegen von Jahr zu Jahr, die Sozialausgaben wurden gekürzt, und die Zivilgesellschaft versank in der Diskussion, ob die „kleinen Taten“ dem politischen Kampf vorzuziehen seien. Die Frage war nicht neu, der Begriff hatte sich bereits in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts unter der reaktionären Herrschaft von Zar Alexander III. etabliert. Damals wurden liberale Intelligenzler Dorflehrer und Landärzte – so hofften sie, die soziale Reform voranzutreiben. Unter Putin ging es meist darum, den Notleidenden unmittelbar zu helfen, und wichtige Persönlichkeiten der karitativen Szene verschmolzen immer mehr mit dem Regime.
Eines der spektakulärsten und traurigsten Beispiele war Jelisaweta Glinka, genannt „Dr. Lisa“, die sich für Obdachlose und Palliativpatienten engagierte. Sie pflegte Freundschaften im Machtapparat, unterstützte gleichzeitig politische Gefangene und trat für faire Wahlen und andere liberale Themen ein. 2014 reiste sie mithilfe der Präsidialverwaltung in den Donbass, um kranke Kinder aus dem Kriegsgebiet nach Russland zu holen. Dies war der erste bekannt gewordene Fall der Entführung ukrainischer Kinder durch die russischen Besatzer. Doch Glinka bestritt, dass es russische Truppen im Donbass überhaupt gebe. Es fehlte nicht an Kritik, die sie als Schmutzkampagne abtat. Im Donbass, sagte sie in einem Interview, müsse sie unter Lebensgefahr Kinder retten und zu Hause eine Steinigung über sich ergehen lassen. Die Opposition solle sich schämen: Statt für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen, gehe sie auf Dr. Lisa los. 2016 kam sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Sie flog zusammen mit einer Militärkapelle nach Syrien, ihre Rettungsaktionen gehörten inzwischen zum festen Bestandteil der propagandistischen Inszenierung. Die Bewertung von Dr. Lisa ist nach wie vor ein großes Streitthema in der russischen Zivilgesellschaft, viele halten sie für eine Heilige, die ihren Ruf und ihr Leben geopfert hat, um andere zu retten.
Eine weitere umstrittene Heilige ist Njuta Federmesser, Leiterin einer Stiftung, die Hospize fördert. 2018 wurde sie Vorstandsmitglied der Putinbewegung Volksfront. Heute kümmert sich Federmesser um die psychologische Betreuung russischer Veteranen des Ukrainekrieges. Man müsse den Helden helfen, sagt Federmesser und bekommt Lob von Walerij Panjuschkin: Sie werte nicht politisch oder moralisch, sie tue nur ihre Pflicht.
Diese Rhetorik breitet sich nun auch nach Deutschland und in den Westen aus. Das russische Regime versteht es meisterhaft, die besten Motive und edelsten Gefühle der Menschen zu manipulieren und selbst schärfste Gegner für seine Interessen zu instrumentalisieren. Der Gefangenenaustausch, bei dem eine Reihe von Agenten, darunter ein verurteilter Mörder, gegen sechzehn unschuldige Menschen an Russland ausgeliefert wurden, zeigt dies besonders deutlich.
Natürlich ist es eine gute Sache, dass Wladimir Kara-Mursa und andere ausgetauschte russische Oppositionelle nun frei und in Sicherheit sind. Er übertreibt nicht, wenn er sagt, dass er die Haft wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Allein schon sein Urteil, 25 Jahre wegen Hochverrat, war präzedenzlos hart. Zwei Jahre Einzelhaft waren eine zusätzliche Folter. Dabei wurde er bereits 2015 und 2017 Opfer von Giftanschlägen, die er nur knapp überlebte. Für diese Härte gibt es eine Erklärung: Kara-Mursa war einer der führenden Lobbyisten für die Sanktionen, die von den USA und der EU seit 2016 wegen Menschenrechtsverletzungen gegen einzelne Vertreter des russischen Regimes verhängt wurden, darunter gegen den Richter, der ihn später verurteilte.
Nach seiner Freilassung nutzt Kara-Mursa seine Prominenz und seine Beziehungen in höchste politische Kreise, um den Austausch weiterer politischer Gefangener zu erwirken. Und das ist – im Gegensatz zu den Sanktionen – durchaus im Interesse des Kremls. Die Aussicht auf einen Austausch der eventuell auffliegenden Agenten ist geradezu eine Einladung an Russland, seine Spionage- und Sabotageaktivitäten im Westen noch auszuweiten. Schließlich verfügt es über einen unerschöpflichen Vorrat an politischen Gefangenen und hat schon gezeigt, dass es bereit ist, Bürger westlicher Demokratien als Geiseln zu nehmen. Früher oder später würde man sich im Westen auch die Frage stellen, warum man eigentlich russische politische Gefangene gegenüber etwa belarussischen, chinesischen, iranischen oder saudischen priorisiert.
Wer jetzt, wie Kara-Mursa, den Austausch trotz aller Kritik als moralischen Sieg des Westens interpretiert und eine Fortsetzung fordert, ignoriert die Erfahrung der russischen Gesellschaft, dass die Empathie für Menschen in Not und der Wunsch, ihnen hier und jetzt zu helfen, die Lösung der zugrunde liegenden Probleme durchaus behindern kann. Im Falle der politischen Gefangenen wäre es zum Beispiel konstruktiv, die Bundesregierung und andere westliche Demokratien aufzufordern, die Einhaltung der Menschenrechte zur Bedingung für wirtschaftliche Beziehungen oder militärische Bündnisse mit anderen Ländern zu machen. Das würde allen politischen Häftlingen Hoffnung geben, nicht nur denen in Putins Gulag.