Geld, Gier und Feindschaft
- Nikolai Klimeniouk
- 26. März 2023
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Okt. 2024
Schon öfter weckte die russische Opposition den Verdacht, den Widerstand gegen Putin nur halbherzig zu unterstützen. Jetzt bekämpfen sich die verschiedenen Lager gegenseitig.
Eine verkürzte Fassung dieses Artikels wurde in der FAS unter dem Titel „Geld, Gier und Feindschaft“ und auf FAZ.net unter dem Titel „Die russische Opposition zerlegt sich selbst“ am 26. März 2023 veröffentlicht.

Am 6. Juli 2004 ging ich in Moskau zum Arzt und stellte dort fest, dass meine Bankkarte nicht funktionierte. Da die Hotline ständig besetzt war, lief ich zur nächstgelegenen Bankfiliale. Dort hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Die Geldautomaten waren leer, die ratlosen Mitarbeiter gaben keine Auskunft, Geld war anscheinend nur am Schalter zu bekommen, aber die Schlange dort war einfach zu lang. In Selbstorganisation hatten die Kunden Wartelisten für den nächsten Tag angelegt.
An jenem nächsten Tag erschien in der damals wichtigen überregionalen Zeitung „Kommersant“ ein Bericht über die Vorkommnisse. Die Schlagzeile lautete: „Die Bankenkrise ging auf die Straße. Systemrelevante Banken stießen mit den Kunden zusammen.“ Der „Kommersant“ war schon immer für verspielte Titel bekannt. Daraufhin verklagte die Bank die Zeitung. Sie behauptete, erst der Pressebericht habe die Kunden in Panik versetzt, und verlangte umgerechnet rund zehn Millionen Dollar Schadenersatz. In der Situation hätte der Verlag, damals eines der einflussreichsten Medienunternehmen Russlands, eine derart hohe Strafe kaum verkraftet. Nach einem Jahr vor Gericht wurde die Entschädigungssumme auf etwa eine Million reduziert.
Die Mediengruppe „Kommersant“, die damals den mit dem Kreml verfehdeten Unternehmern Boris Beresowskij und Badri Patarkazischwili gehörte, überlebte den Schlag und blieb noch einige Jahre das Bollwerk des seriösen Journalismus in Russland, bis der spätere Besitzer Alischer Usmanow sie nach und nach auf die Linie brachte.
Die Bank heißt Alfa und ist ein zentraler Bestandteil des Wirtschaftskonglomerats „Alfa Group“, einer der größten privaten Investmentgruppen Russlands, die für ihre rabiaten Geschäftsmethoden und guten Beziehungen zum Kreml bekannt ist. Einem der Hauptaktionäre, Petr Aven, der Anfang der 90er Jahre Außenhandelsminister war, wird nachgesagt, den damaligen Petersburger Vizebürgermeister Wladimir Putin in einem Korruptionsskandal gedeckt und ihm 1996 zu einem Posten in der Präsidialverwaltung verholfen zu haben, der seinen späteren Aufstieg ermöglichte – was Aven immer wieder dementiert. Heute stehen Alfas Hauptaktionäre Mikhail Fridman, Petr Aven, Alexei Kuzmichev und German Khan wegen ihrer Kreml-Nähe auf der Sanktionsliste der Europäischen Union – und wehren sich vor Gericht und hinter den Kulissen dagegen, indem sie eben jene Kreml-Nähe bestreiten.
Nun hat sich herausgestellt, dass eine Reihe wichtiger Persönlichkeiten der russischen Opposition – darunter der Leiter von Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung ACF, Leonid Wolkow, und einige hochkarätige Journalisten – schriftlich an die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von den Leyen und ihren Vize Josep Borrell appelliert haben, die Sanktionen gegen die Alfa-Aktionäre aufzuheben. Warum? In dem Schreiben heißt
es, die Alfa-Group habe nie mit dem Staatsapparat zu tun gehabt. Außerdem sei Alfas Hauptaktionär, Mikhail Fridman, gebürtiger Ukrainer und ein Freund des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow gewesen. Besonders brisant ist, dass Wolkow die Oligarchen ausgerechnet im Namen der Stiftung, die öffentlich für Sanktionen gegen sie eintrat, heimlich unterstützt hat.
Die Veröffentlichung des peinlichen Schreibens war ein Akt der Rache, der offenbart, welche Risse sich durch die russische Opposition ziehen. Sein Hintergrund waren Recherchen, die ACF am 7. März veröffentlicht hatte und die belegten, wie die Moskauer Stadtverwaltung PR-Kampagnen für Bürgermeister Sergei Sobjanin durch schwarze Kassen und manipulierte Ausschreibungen finanziert. Der Bericht belastet auch den ehemaligen Chefredakteur des inzwischen verbotenen Senders „Echo Moskwy“, Alexei Wenediktow. Die Stadtverwaltung, so der Bericht, benutze das intransparente Programm „Moj Rajon“ (Mein Bezirk) um für Sobjanin zu werben und jedes auch noch so kleine positive Ereignis in Moskau als dessen persönliches Verdienst darzustellen. Dabei seien beträchtliche Summen an bekannte Propagandisten geflossen, und eben auch an Wenediktow. Dessen Firma habe in drei Jahren 680 Millionen Rubel (rund neun Millionen Euro) für die Herausgabe der Zeitschrift „Moj Rajon“ erhalten, die im jedem Moskauer Briefkasten landen sollte. Wenediktow habe der Stadt ums dreifache überhöhte Produktionskosten in Rechnung gestellt; als Gegenleistung habe er nicht nur PR für Sobjanin betrieben, sondern auch geholfen, im Jahr 2020 die Wahlergebnisse in Moskau zu manipulieren.
Als Leiter eines überregionalen Senders mit einer großen Reichweite war Wenediktow für viele russische Liberale über Jahre hinweg ein unverzichtbarer Verbündeter. Nun schreiben Nawalnys Mitstreiter über ihn so: „Warum veröffentlicht der Chefredakteur eines liberalen oder gar, wie viele sagen, oppositionellen Radiosenders Lobeshymnen über den Bürgermeister, die von bezahlten Propagandisten abgeschrieben sind? Ein Zufall, ein Anruf des Herzens oder ein Versuch, den Sender zu retten? Nein, das ist das Geld. Wenediktow macht es wegen des Geldes“. Wenedikow sei, heißt es weiter im Bericht, mehr als falscher Verbündeter gewesen, er habe die Institution der Wahlen durch seine Hände endgültig zerstört. Der Stiftungschef Wolkow nannte ihn in einem Post sogar einen „besonders gefährlichen Feind“.
Die Reaktion des Geschmähten ließ nicht lange auf sich warten. Es war Wenediktow, der das skandalöse Schreiben der Oppositionellen an die Spitze der EU-Kommission
auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichte. Unterzeichnet wurde der Brief neben Wolkow von acht weiteren Regimekritikern, darunter die Besitzerin des Fernsehsenders Doschd (TV Rain) Natalja Sindejewa, die Journalisten Leonid Parfjonow und Sergei Parchomenko und der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew. Im Gegensatz zu anderen Mitunterzeichnern bestritt Wolkow zuerst die Echtheit seiner Unterschrift. Daraufhin veröffentlichte Wenediktow ein weiteres Schreiben von Wolkow an die EU-Führung, diesmal auf dem amtlichen Briefbogen der ACF-Stiftung. Jetzt half kein Leugnen mehr. Zu seiner Verteidigung erklärte Wolkow, er habe so die russische Businesselite spalten wollen – und ließ seinen Posten bei der Stiftung ruhen.
Der Streit zwischen dem Nawalny-Lager und Wenediktow stellt die russische Opposition – vor allem ihre alte Garde – vor eine schwere Zerreißprobe. Bisher waren es immer wieder dieselben Leute, die Wenediktow gegen den Vorwurf der Kollaboration verteidigten und Nawalny gegen die Kritik an seinem Nationalismus. Das jeweilige Vorgehen, hieß es aus dem Mund der Apologeten, sei taktisch klug und aus übergeordneten Gründen notwendig
gewesen. Wer das beanstande, spiele nur dem Kreml in die Hände. Doch jetzt appellieren dieselben Leute mit denselben Argumenten flehentlich an die Parteien, sich schleunigst zu versöhnen.
Wie die meisten Skandale hat auch dieser viele Facetten. Eine davon ist das Achselzucken, mit dem in Russlands oppositionellen Kreisen über verdächtige Zusammenhänge hinweggesehen wird. Keine Reaktion, als Wolkow, während die russische Armee die ukrainische Infrastruktur planmäßig zerstörte, für einen Marshall-Plan für Russland warb und sich gegen Spenden für das ukrainische Militär aussprach. Man solle die Unterstützung der Ukraine dem reichen Westen überlassen, sagte er in einem Interview, und das Geld lieber seiner Stiftung geben, damit sie Putin mit ihren YouTube-Videos schwächen könne. Gegen die Unterstützung des ukrainischen Militärs wurde jüngst auch in einem Nachfolgeprojekt des Senders „Echo Moskwy“ agitiert, das mit Wenediktow in Verbindung steht. Nichts geschah, als Wenediktow den russischen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk im Juni letzten Jahres rechtfertigte, bei dem 21 Menschen starben und 60 Verletzungen erlitten. Es habe sich um ein legitimes militärisches Ziel gehandelt, sagte Wenediktow; leider habe man alte Munition benutzt und es deswegen verfehlt. Diese Reihe lässt sich fast endlos fortsetzten.
Es hat eine finstere Symbolik, dass sich Wenediktow ausgerechnet ins Projekt „Moj Rajon“ einspannen ließ. Die massive Aufhübschung von Moskau, für die es steht, wird allgemein als eine Reaktion auf die Protestwelle von 2011/12 verstanden. Damals gingen Hunderttausende in vielen Städten, vor allem in Moskau, auf die Straße, um gegen Wahlmanipulationen und Putins Rückkehr ins Amt des Präsidenten zu demonstrieren. Die Machthaber befürchteten einen russischen Maidan und suchten nach Wegen, Proteste zu entschärfen. Im Dezember 2011 fand ein Treffen in der Stadtverwaltung von Moskau statt, das aus der Sicht vieler Kritiker einen Sündenfall der russischen Opposition darstellte und das Ende des Widerstands besiegelte. Anwesend waren ein Vizebürgermeister, ein Vertreter der Präsidialverwaltung, Wenediktow, der Journalist und langjähriger „Echo“-Host Sergej Parchomenko und die Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow und Boris Nemzow. Hinter dem Rücken der Initiatoren hatten sie vereinbart, die geplante Großdemonstration aus der Nähe des Kremls an den isolierten Bolotnaja-Platz zu verlegen. Anschließend, so Wenediktow später, habe man die Abmachung mit Whiskey gefeiert.
Die Aktivisten, die auf Dauerprotest vor dem Kreml und radikaleres Vorgehen setzten, wurden so von den meisten Protestierenden abgetrennt. Am Ende wurden die Proteste mit brutaler Gewalt zerschlagen, und die Moskauer Mittelklasse, die treibende Kraft des gescheiterten Aufstands, wurde mit urbanistischen Projekten und Investitionen in Kultur- und Freizeiteinrichtungen befriedet – mit einer hedonistischen Simulation des vermeintlich westlichen Lebensstils anstelle von Menschenrechten und politischer Selbstbestimmung. „Wie hübsch ist doch unsere Schönheit Moskau geworden“, hieß es damals spötisch. Das Motto hätte auch Wenediktows Zeitschrift zieren können.
Vielleicht ist es Zufall, dass Parchomenko, einer der Teilnehmer des verhängnisvollen Treffens, den Brief zur Unterstützung der Oligarchen der Alfa Group unterzeichnete, in dem auch der Name eines anderen Teilnehmers des Treffens, Boris Nemzow, als Argument angeführt wird. Nichts in diesem Brief deutet darauf hin, dass die Alfa-Aktionäre in irgendeiner Weise an diesen Ereignissen beteiligt waren. Doch allein die Tatsache, dass die Namen der Milliardäre und der Oppositionellen einträchtig nebeneinander stehen, verstärkt den seit langem in der Luft liegenden Eindruck, Russlands liberale Kreise, kritische Medien und die politische Opposition seien über Jahre hinweg durch die finanzielle Unterstützung oligarchischer Strukturen manipuliert, an der kurzen Leine gehalten und an einer Radikalisierung gehindert wurden. Das viele Geld, mit dem Projekte und Arbeitsplätze im Kulturbereich, in den Medien oder der Zivilgesellschaft gefördert wurden und das zumindest einigen in diesen Bereiche zu komfortablem Wohlstand verhalf, wirkte auf die Regimegegner mäßigend. Es gab einfach zu viel zu verlieren. Was immer man aus der Zerstrittenheit der Opposition herauslesen mag: Die Hoffnung auf Veränderungen in Russland und der Wille zum Widerstand wurden auch in Geld ertränkt.