Irrtümer bis zuletzt
- Nikolai Klimeniouk
- 26. Okt. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Feb.
Die Autobiographie Alexej Nawalnyjs ist ein Dokument der maßlosen Selbstüberschätzung. Und man versteht, warum der Oppositionelle scheiterte.
Veröffentlicht in: FAS, 26.10.2024

Das autobiographische Buch des im Februar im Straflager ermordeten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj trägt den Titel „Patriot“, ist über 500 Seiten dick und erscheint zeitgleich in 26 Sprachen – zu einer Zeit, in der Nawalnyjs politisches Erbe zunehmend ins Wanken gerät. Die von ihm gegründete Antikorruptionsstiftung FBK wird von Skandalen erschüttert. Im März 2023 musste sein wichtigster Mitstreiter Leonid Wolkow als Stiftungschef zurücktreten. Zuvor war bekanntgeworden, dass er sich hinter den Kulissen für die Aufhebung von Sanktionen gegen einige Oligarchen einsetzt, für deren Sanktionierung FBK öffentlich plädiert (FAS, 26.03.2023).
Im Frühjahr 2024 brüskierte Nawalnyjs Team die liberale Öffentlichkeit mit der Doku-Serie „Verräter“ über die Neunzigerjahre. Sie dämonisiert Jelzin und die Reformer ganz im Stil von Putins Propaganda als Hauptverantwortliche für Russlands Misere und spricht der Gesellschaft jede Eigenverantwortung ab. Boris Simin, der wichtigste Förderer der FBK, gab bekannt, dass er seine Unterstützung einstelle, weil er kein Vertrauen mehr habe. Der Politiker und Aktivist Maxim Katz beschuldigt die FBK in einer Recherche, Großspenden von russischen Bankiers zu empfangen, die Fonds in Milliardenhöhe veruntreut haben sollen. Im Gegenzug soll sie dabei geholfen haben, sich im Westen als Opfer politisch motivierter Verfolgung zu präsentieren. In diesem Kontext soll das Buch an die Ursprünge erinnern, an den furchtlosen Oppositionellen, der sein Leben im Kampf gegen Korruption und Putin geopfert hat.
Dabei ist der Text vor allem selbstentlarvend. Er ist ein Dokument maßloser Selbstüberschätzung, ein Zeugnis der Unfähigkeit, die eigene Gesellschaft kritisch zu betrachten und das Regime zu verstehen, gegen das der Autor so heldenhaft gekämpft hat. „Das russische Volk ist gut, unsere Führer sind entsetzlich“ – diese Banalität wird in dem Buch wörtlich und in verschiedenen Variationen unzählige Male wiederholt. „Das größte Verbrechen Putins und seiner Spießgesellen“ besteht laut Nawalnyj darin, „dass sie nichts Gutes für unser Land getan haben“. Russlands Kriege kommen in diesem Buch so wenig vor wie in diesem Satz, der mitten in Russlands Krieg gegen die Ukraine geschrieben wurde. Für Russlandkenner wird Nawalnyjs Autobiographie vor allem wegen ihrer Leerstellen und unbeantworteten Fragen interessant sein, ansonsten findet sich darin kaum etwas, was Nawalnyj nicht schon in Interviews und in sozialen Medien erzählt hatte.
Wer sich mit der Materie nicht so gut auskennt, sollte das Buch mit Vorsicht genießen. „Patriot“ zeichnet ein extrem verzerrtes Bild von Russland und der Person Nawalnyjs, selbst was die Fakten seiner Biographie betrifft. Die vielen Übersetzungsfehler machen es dem Leser nicht leichter. Sämtliche Übersetzungen des Buches, auch die deutsche, basieren auf der englischen Version, die speziell für westliche Leser erstellt wurde. So wird aus Nawalnyjs Juradiplom eine Doktorarbeit und aus den rund 100.000 Euro, die sechzehn prominente Russen der Stiftung FBK gespendet haben, werden sechzehn Einzelspenden von mindestens 100.000 Euro. Vor dem Hintergrund der ständigen Prahlerei fällt das aber nicht weiter auf.
Den größten Teil seiner Autobiographie hat Nawalnyj nach Angaben seines Teams 2020 in Deutschland geschrieben, während er sich von dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok erholte. Dieser Teil wurde um die Tagebücher ergänzt, die er im Gefängnis führte. Nach der kurzen Einleitung, in der er den Anschlag und seine Rekonvaleszenz beschreibt, widmet sich Nawalnyj seinem politischen Werdegang, legt seine Ansichten dar und äußert Reue über seine Fehler, etwa darüber, dass er Gorbatschow einst gehasst und Jelzin respektiert habe.
„Das Lager derer, die Gorbatschow hassten, zerfiel in diejenigen, die die Reformen ablehnten, und jene, die das langsame Tempo bei ihrer Einführung kritisierten. Letztere, zu denen ich zählte, hassten ihn wesentlich inbrünstiger: Wir hatten ein Ziel, dass wir anderswo verwirklicht sahen: völlige Meinungsfreiheit, Kapitalismus und Demokratie. Und entsprechend eifrig hackten wir auf ihm herum.“ Als Gorbatschow seinen Reformkurs ausrief, war Nawalnyj neun Jahre alt. Er war sechzehn, als die Sowjetunion aufgelöst wurde und Gorbatschow seine Macht verlor. Nawalnyj führte ein normales sowjetisches Leben in einer militärischen Siedlung unweit von Moskau (sein Vater war Offizier), seine politische Tätigkeit bestand in den Gesprächen mit seiner Mutter vor dem Fernseher und gelegentlichen Auseinandersetzungen mit den Lehrern.
Je weiter man liest, desto weniger wundert man sich über Passagen wie diese. Meistens versteckt Nawalnyj Selbstlob hinter Selbstironie: „Häufig bekomme ich zu hören, dass die rasche Art und Weise, in der ich lernte, mir das Internet zunutze zu machen, eine fast schon einzigartige politische Begabung beweise. Dass ich ein Visionär gewesen sei, der den Anbruch einer neuen Ära prophezeit habe. Das ist natürlich schmeichelhaft, aber weit gefehlt.“ Doch wenn es um seine Entscheidung geht, nach Russland zurückzukehren, hat diese Selbstüberschätzung fatale Folgen.
2013 wurde Nawalnyj in einem Schauprozess zu einer Haftstrafe verurteilt, aber schon am nächsten Tag nach einer spontanen Massendemonstration wieder freigelassen. Auch wenn er es nicht direkt sagt, wird deutlich, dass Nawalnyj mit einem ähnlichen Ausgang 2020 rechnete und sogar hoffte, dass Demonstrationen gegen seine Verhaftung das Regime zu Fall bringen könnten. Tatsächlich kam es in mehreren russischen Städten zu Protesten, doch ihre einzige Konsequenz waren Massenverhaftungen (TAZ, 06.02.2021). Einen ähnlichen Effekt erhoffte er sich von dem Enthüllungsfilm über Putins Palast, den sein Team am Tag nach der Verhaftung veröffentlichte. Doch zig Millionen Klicks brachten keine Millionen auf die Straße. Und Putin hatte nach der Annexion der Krim vor nichts mehr Angst. Für Nawalnyj war die Annexion nie besonders wichtig. Im Buch wird sie nur in einem Zusammenhang erwähnt: dass Putin zuvor Nawalnyjs Blog mit jährlich 20 Millionen Besuchern gelöscht und andere unabhängige Medien zerschlagen habe.
Doch zurück zu den Fehlern. Später im Leben lernte Nawalnyj, Gorbatschow zu respektieren, weil er unbestechlich gewesen sei, während Jelzin keine echte ideologische Motivation gehabt habe, sondern lediglich von der Macht- und Habgier getrieben worden sei. Gier ist im Grunde die einzige Motivation, die Nawalnyj bei all seinen politischen Gegnern erkennt. Seinen Glauben an Jelzin verlor Nawalnyj 1996, als er in Deutschland ein Auto kaufte und dann mehrere Tage beim Zollamt in Moskau verbrachte, um es zu registrieren, und dabei die Dysfunktionalität des Staates hautnah erlebte. Seitenlang schildert Nawalnyj seine unangenehmen Erfahrungen in der Behörde, die ihn desillusionierten, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus: Im selben Jahr 1996 endete der erste Tschetschenienkrieg, in dem nach unterschiedlichen Angaben bis zu 30.000 Kombattanten und zwischen 30.000 und 120.000 Zivilisten starben, alles Bürger der Russischen Föderation. Eine recht auffällige Lücke in dem Buch mit dem Titel „Patriot“.
Das Wort „Tschetschenien“ kommt darin nur einmal vor, und zwar als Zitat. Nawalnyj prangert vor Gericht die Lügen des russischen Staates an und nennt eine davon: „Sie erzählen mir, dass niemand Russen in Tschetschenien unterdrückt.“ Dabei spielt das Thema Tschetschenien in Nawalnyjs politischer Biographie eine nicht unerhebliche Rolle. In seinem 2006 gegründeten Blog schreibt er viel über die Tschetschenen, vergleicht sie mit Tieren, ruft dazu auf, sie aus ethnisch mehrheitlich russischen Regionen zu vertreiben, verspottet den tschetschenischen Volkstrauertag, der mit dem sowjetischen und russischen „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ zusammenfällt. Am 23. Februar 1944 wurden auf Stalins Befehl alle Tschetschenen aus ihrer Heimat nach Zentralasien verschleppt: „Wenn man jetzt nicht alle Tschetschenen, aber nur ausgewählte ‚Vertreter der Öffentlichkeit‘ nach Kasachstan deportieren würde, wäre das auch Genozid?“
Die Not der Russen sei der einzige interethnische Konflikt gewesen, schreibt Nawalnyj, an dem er in seiner Jugend Interesse zeigte. Der Zerfall der Sowjetunion habe die Russen zur größten geteilten Nation Europas gemacht. Mit derselben Formulierung begründet Putin die Annexion der Krim und den Überfall auf die Ukraine. Sie tauchte auch prominent in einem Dokument auf, das Nawalnyj 2007 unterschrieb: dem Manifest der Nationalen Russischen Befreiungsbewegung Narod (Das Volk), gegründet im Juni 2007 von Nawalnyj, dem Schriftsteller Sachar Prilepin und dem Petersburger Regionalpolitiker Sergej Guljaew.
Das Gründungsdatum ist wichtig. Im Dezember 2007 wurde Nawalnyj aus der liberalen Partei Jabloko ausgeschlossen, laut Partei wegen seines Nationalismus, laut Nawalnyj, weil er den Parteivorsitzenden Grigori Jawlinski kritisiert habe. Für „Narod“ drehte Nawalnyj auch seine ersten viralen Videos, die immer noch im Netz stehen. In einem präsentiert er sich als Zahnarzt: „Alles, was uns stört, soll durch Deportation entfernt werden.“ Dabei wird gezeigt, wie Skinheads asiatisch aussehende Menschen durch die Straße jagen. In einem anderen ruft er die Russen dazu auf, sich gegen Islamisten zu bewaffnen, die er als Ungeziefer darstellt. Die Fragen nach seiner nationalistischen Vergangenheit tut Nawalnyj als eine lästige Macke der westlichen Journalisten ab, die sich bei dem bösen Wort „Nationalisten“ Skinheads vorstellen; ihm sei es aber lediglich darum gegangen, möglichst breite Koalitionen gegen Putin zu schaffen.
Während Nawalnyj den Ausschluss aus Jabloko detailliert schildert, wird die Bewegung Narod nicht einmal erwähnt, ebenso wenig Nawalnyjs einstiger Freund und politischer Weggefährte Prilepin, der später zu einem Ideologen des Kriegs gegen die Ukraine wurde und dort sogar eine Einheit der sogenannten Separatisten kommandierte. Nachdem Nawalnyj mehrere Seiten dem Bus Nr. 26 widmet, mit dem er als Student nach Moskau fährt, und sich wortreich dafür entschuldigt, dass er in Gedanken gesündigt habe, indem er Jelzin mochte, fallen solche Leerstellen besonders auf.
Das Tagebuch, das Nawalnyj im Gefängnis führt, ist der stärkste Teil von „Patriot“, es zeugt von Nawalnyjs großem Mut angesichts des unmenschlichen Systems. Nachdem er in einem absurden Prozess nach dem anderen zu immer längeren Strafen verurteilt wurde, wird ihm zunehmend klar, dass er die Haft nicht mehr lebendig verlassen wird. Er findet Hoffnung in der Religion, wobei für ihn sein „schönes Russland der Zukunft“ und das Reich Gottes irgendwie verschmelzen. Es ist eine erschütternde Lektüre. Es gibt viele starke literarische und publizistische Berichte aus russischen Gefängnissen. Was Nawalnyj von den meisten Autoren solcher Berichte unterscheidet, ist, dass er sich absolut freiwillig hinein begeben hat.
In seinem letzten Tagebucheintrag schreibt er über ukrainische Zivilisten, die unter Bomben in Mariupol sterben: „Ich habe meine Entscheidungen getroffen, doch diese Leute haben einfach nur ihr Leben gelebt“. Es ist wirklich tragisch, das Russlands bekanntester Oppositionspolitiker nur in seinen letzten Tagen an das Leid denkt, welches sein Land in der Welt verursacht, und bis zu seinem Ende nicht verstanden hat, warum.