Israel in ständiger Erwartung des Genozids
- Nikolai Klimeniouk, Ksenia Krimer
- 20. Apr. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Aug. 2024
Israel lebt in steter Gefahr der physischen Vernichtung. Dennoch ist es nach dem Massaker der Hamas gegen Israel nun Israel selbst, dem weltweit erneut genozidale Absichten unterstellt werden.
Veröffentlicht in: NZZ, 20.04.2024

In den Monaten nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 hat sich in weiten Kreisen der westlichen Öffentlichkeit die Ansicht durchgesetzt, dass Israel die Hauptverantwortung oder gar die alleinige Schuld an der Gewalt in Israel und Palästina und an jeder Aggression gegen Israel und Juden trägt. Demgemäss sei der Hamas-Terror eine nachvollziehbare Überreaktion der Palästinenser auf die israelische Politik, Israels Vorgehen nach dem Anschlag hingegen sei keine Verteidigung, sondern Vergeltung und versuchter Völkermord.
Die wichtigen Konfliktfaktoren Islamismus, der Israel-Hass des iranischen Regimes und arabischer Nationalismus bilden einen blinden Fleck, dabei steht die Auslöschung Israels im Programm der Hamas und ist erklärtes Ziel Irans sowie einer ganzen Reihe anderer Staaten und nichtstaatlicher Akteure. Und dennoch ist es Israel, dem man immer wieder genozidale Absichten unterstellt, als gäbe es für die israelische Gewalt keinen anderen Grund als puren bösen Willen.
Die ständige Bedrohung
Genozid spielt für die israelische Gesellschaft in der Tat eine besondere Rolle, nämlich als ständige Bedrohung. Die Erwartung eines Genozids strukturiert die moralischen und politischen Konflikte Israels und die Wahrnehmung seiner Geschichte, zu der auch der Überfall seiner Nachbarländer nach der Gründung Israels 1948 und die darauffolgende Vertreibung von 900 000 Juden aus den muslimischen Ländern gehören.
Die Erwartung eines Genozids schuf den fruchtbaren Boden für autoritäre Kräfte; Benjamin Netanyahu und die israelische Rechte nutzten das Sicherheitsbedürfnis und die Traumata der Vergangenheit aus, um ihre Angriffe auf die Demokratie und extreme Härte gegenüber Palästinensern zu rechtfertigen. Damit haben sie die Bedrohungen des Genozids banalisiert und das mit ihrer weltweiten Anerkennung verbundene moralische Kapital vergeudet. Diese Gefahren sind nicht erst durch Missstände in der israelischen Politik entstanden, aber schlechte Politik mit ihren Gewaltexzessen hat sie noch akuter gemacht.
Was ein Leben unter ständiger Bedrohung mit einer Gesellschaft macht, kann man sich nur schwer vorstellen, wenn man nicht selbst unter solchem Druck lebt. Doch Israel ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Ein kürzlich erschienenes Buch wirft einen Blick auf die inneren Prozesse in den Ländern, die in jüngster Vergangenheit Schreckliches erlebt haben und allen Grund haben, eine Wiederholung zu befürchten.
Die polnischen Historiker Karolina Wigura und Jarosław Kuisz analysieren in ihrem 160-seitigen Essay «Posttraumatische Souveränität» die Erfahrungen der Staaten Ost- und Mitteleuropas, die nach dem Ersten Weltkrieg ihre Souveränität erlangten und sie kurz darauf wieder verloren: zuerst durch den Hitler-Stalin-Pakt und dann durch die von den westlichen Demokratien gebilligte sowjetische Besatzung.
Das Trauma der Völker dieser Region habe, so Wigura und Kuisz, zwei Gesichter: Die Furcht vor einem Überfall aus dem Osten gehe mit der Sorge einher, vom Westen im Stich gelassen zu werden. Ihre durch bittere Erfahrung geschärfte Wahrnehmung der Gefahr wird von den politischen Partnern nicht ernst genommen, sondern als hysterische Panikmache, Ressentiment oder Rachsucht abgetan. All dies führt dazu, dass diese Gesellschaften die Souveränität als höchstes politisches Gut über alles andere stellen, einschliesslich der Wahl des politischen Systems und der liberalen Werte.
Das hat in der Vergangenheit, und im Falle Polens auch in der Gegenwart, autoritären Kräften zur Macht verholfen, aber keine Sicherheit gebracht. Und weil diese Gesellschaften auch aus dieser Erfahrung wissen, dass eine freundliche Haltung gegenüber dem Aggressor die Gefahr nicht mindert, und von der Unzuverlässigkeit ihrer Verbündeten ausgehen, investieren sie erhebliche Ressourcen in ihre Sicherheit.
Militarisierung der jüdischen Gesellschaft
Die Gefahr, die über Israel schwebt, ist nicht der Verlust der Souveränität, sondern die physische Vernichtung. In seinen Anfängen war der jüdische Staat schwach und hatte keine zuverlässigen Verbündeten. Erst mit der Zeit ist es ihm gelungen, sich als eine schlagkräftige militärische Macht zu etablieren.
Dabei begann die Militarisierung der jüdischen Gesellschaft lange vor der Gründung des Staates Israel. Die Erfahrung, immer wieder Opfer zu sein, und mit der Erwartung von Gewalt zu leben, brachte ein kämpferisches Ethos und eine Obsession mit körperlicher Stärke hervor. 1898 auf dem Zweiten Zionistischen Kongress in Basel stellte einer der Ideologen der Bewegung, Max Nordau, seine Idee des «Muskeljudentums» vor, die körperliche Ertüchtigung als Schlüssel zur geistigen und nationalen Erneuerung der Juden.
Kurz danach entstanden in ganz Europa zahlreiche jüdische Sportvereine. Sie wurden passenderweise nach dem Anführer des jüdischen Aufstandes gegen die römische Herrschaft im 2. Jahrhundert, Simon Bar Kochba, benannt – in Nordaus Worten der «letzten weltgeschichtlichen Verkörperung des kriegsharten, waffenfrohen Judentums».
Unter den jüdischen Universitätsstudenten in Wien war es üblich, Antisemiten zum Duell herauszufordern, so dass einer der führenden Rabbiner der Stadt genötigt war, diese Praxis zu billigen. In Ungarn und Deutschland strömten jüdische Studenten zu Fechtbruderschaften und stellten ihre Schmisse stolz als Ehrenabzeichen zur Schau.
Die jüdischen Erfahrungen in Osteuropa waren weitaus gewaltvoller – nicht umsonst verdanken wir das Wort «Pogrom» der russischen Sprache. Allein von 1903 bis 1906 wurden im Russischen Reich mehr als 690 mörderische Übergriffe auf jüdische Gemeinden mit Tausenden von Opfern verübt, oft mit Billigung der Behörden. Im Bürgerkrieg (1918–1920) wurden bis zu 250 000 Juden ermordet. Es löste eine Welle jüdischer Auswanderung aus, zeigte aber auch, dass die Juden ausser sich selbst niemanden hatten, auf den sie sich verlassen konnten. Und dies führte wiederum zur Gründung zahlreicher Selbstverteidigungsgruppen.
Diese Erfahrung wurde von der Diaspora nach Palästina getragen, wo die wachsenden jüdischen Gemeinden mit verschiedenen Formen von bewaffneten Patrouillen experimentierten, um sich vor Dieben und ab den 1920er Jahren auch vor den immer häufigeren arabischen Übergriffen zu schützen. Im Jahr 1920 wurde die Untergrundorganisation Haganah gegründet, ein Vorläufer der israelischen Armee IDF, die sich auf Verteidigung konzentrierte. Die paramilitärische Splittergruppe Irgun (1931–1948) lehnte dagegen das von der sozialistischen zionistischen Führung gepredigte Prinzip der Zurückhaltung ganz ab und verfolgte eine Politik des Terrors sowohl gegen die Araber als auch gegen die britische Kolonialverwaltung.
Die zunehmende Militarisierung der jüdischen Gesellschaft in Palästina war nicht nur eine Folge der wachsenden Spannungen mit den Arabern und den Briten, sondern auch ein wesentlicher Teil des zionistischen Projekts, einen verweichlichten und allgemein verachteten Schlemihl von einem Diaspora-Juden (alles verinnerlichte antisemitische Stereotypen) in einen stolzen «neuen hebräischen Mann» zu verwandeln, der sein Land bearbeitete und in der Lage war, es notfalls zu verteidigen.
Das Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Diaspora bestimmte auch das Verhältnis zur nationalsozialistischen Judenverfolgung: «Das wäre uns nie passiert, wir hätten uns gewehrt.» Der einzige Teil der Holocaust-Erfahrung, mit dem sich die Israelis damals identifizieren konnten, war das Heldentum der Ghetto-Kämpfer und der jüdischen Partisanen – der Rest, so glaubte man, starb einen unwürdigen, passiven Tod.
Die Israeli brauchten mehr als zwei Jahrzehnte, den Eichmann-Prozess von 1961 und den Sechstagekrieg von 1967 – der die Angst vor einer drohenden Vernichtung auslöste –, um sich mit den Opfern des Holocaust zu identifizieren und die Bedrohung eines Genozids wahrzunehmen. Der Hamas-Überfall weckte in Israel noch einmal die Erinnerung an die Gewalt der Vergangenheit, von den Pogromen bis zur Shoah, und erschütterte den selbstgefälligen Glauben an die Unbesiegbarkeit der Armee und der Geheimdienste.
Der Schock über das Massaker wurde noch verstärkt durch die weltweite Welle des Antisemitismus, die den Israeli und vielen Juden in der Diaspora vor Augen führt, wie wenig Verbündete sie eigentlich haben. Doch selbst wenn sich die israelische Gesellschaft als potenzielles Opfer sieht, verbietet es ihr das tief verwurzelte zionistische Ethos, sich als Opfer zu zeigen. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der Israel den iranischen Luftangriff abgewehrt hat, passt schon viel besser ins israelische Selbstbild. Vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen, teils offenen, teils unreflektierten Antisemitismus macht man damit in der modernen, von Opfer-Konkurrenzen geprägten Welt eine denkbar schlechte Figur.
Nikolai Klimeniouk ist Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa, Ksenia Krimer ist Holocaust-Historikerin, zurzeit ist sie Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.