„Befreit bitte die Ukraine von Putin“
- Nikolai Klimeniouk
- 16. Nov. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Ilja Jaschin kam beim Gefangenenaustausch frei und lebt nun in Berlin. Dort will er die russische Opposition in einem Protestmarsch zusammenbringen. Über Waffenlieferungen für die Ukraine spricht er aber nicht.
Veröffentlicht in: FAZ, 16.11.2024

Die russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa und Julia Nawalnaja rufen russische Kriegsgegner zu einem Marsch am 17. November in Berlin auf. Die Ankündigung, die Jaschin in sozialen Medien gepostet hatte, war mit einem Foto aus dem Jahr 2014 vom Friedensmarsch in Moskau illustriert, auf dem die Teilnehmer russische und ukrainische Fahnen trugen, und wurde als Aufforderung verstanden, auch in Berlin mit beiden Fahnen zu demonstrieren. Das löste in der Community Empörung aus, gilt die russische Trikolore doch seit dem 24. Februar 2022 als Symbol des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die russische Exil-Opposition verwendet seitdem eine andere Flagge, Weiß-Blau-Weiß, ohne den „blutigen“ roten Streifen. In Deutschland wird die Trikolore von Putin-Sympathisanten sowie von Anhängern der AfD, des BSW und anderer Kräfte gezeigt, die „Frieden mit Russland“ fordern und sich gegen die Unterstützung der Ukraine aussprechen. Die Veranstalter reagieren auf die Kritik gereizt und weigern sich, eine klare Position zur Flagge zu beziehen, wozu sie in Interviews in russischen Exilmedien und sozialen Netzwerken aufgefordert werden. Ilja Jaschin wurde am 1. August durch den Gefangenenaustausch aus russischer Haft entlassen. Er lebt seither in Berlin.
Wie geht es Ihnen seit Ihrer Entlassung vor drei Monaten?
Ich kann nicht sagen, dass ich mich gut eingelebt habe. Ich hatte nicht viel Zeit, mich zu erholen, da ich fast vom ersten Tag an in meine Arbeit eingetaucht war. Meine Tage bestehen jetzt hauptsächlich aus Reisen in verschiedene europäische Städte, wo ich mich mit meinen Landsleuten treffe. Das sind meistens junge Leute, die in den letzten zweieinhalb Jahren Russland verlassen haben, weil sie die Politik Putins, die Aggression Putins gegen die Ukraine nicht akzeptieren wollten.
Worum geht es bei diesen Treffen?
Ich habe die große Idee, eine internationale Bewegung von Russen zu gründen, die für Demokratie sind, die nicht wollen, dass Russland ein aggressives, militaristisches Land ist, die wollen, dass Russland ein freier und glücklicher Staat ist. Leider leben viele dieser Menschen heute im Ausland. Meine Aufgabe ist es, sie zusammenzubringen. Ich möchte, dass sie gemeinsame Initiativen entwickeln und ihre Energie in die politische Arbeit stecken. Eine solche Initiative ist der Marsch in Berlin, zu dem wir nicht nur Menschen aus Berlin, sondern auch aus anderen europäischen Städten einladen. Ich weiß, dass ein ganzer Bus aus Paris kommen wird.
Wie viele Teilnehmer erwarten Sie?
Wir erwarten Tausende. Bei meinem Treffen mit Bürgern im Mauer Park im August waren es zweieinhalbtausend Menschen, also werden es sicher nicht weniger sein.
Es gibt bereits viel Kritik an dem Marsch. Aktivisten von basisdemokratischen Initiativen berichten in sozialen Netzwerken, dass Sie sie von der Planung ausgeschlossen haben und ihre Kritik ignorieren. Zum Beispiel die Kritik an der Trikolore.
Ich höre die Kritik und habe bereits mehrere große Zoom-Konferenzen mit Vertretern von Antikriegsgemeinschaften abgehalten. Ich sehe, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, wir diskutieren darüber. Aber die Idee ist, einen konsolidierenden Marsch zu veranstalten. Die Fahne ist ein polarisierendes Thema ist, es gibt verschiedene Standpunkte.
Welcher ist Ihrer?
Es gibt den Standpunkt, dass es sich um die Flagge eines Aggressorstaates handelt, die niemals rehabilitiert werden kann, auf die man verzichten muss. Und es gibt den Standpunkt, dass es eine Flagge ist, für die man kämpfen muss und die man Putin nicht kampflos überlassen darf. Es ist eine Flagge, die von Schmutz und Blut gereinigt und zurückerobert werden muss.
Und was genau ist Ihre Meinung?
Ich möchte darüber nicht diskutieren. Das ist eindeutig nicht das Thema, über das wir uns jetzt streiten sollten, das ist eine Diskussion für das Parlament des zukünftigen freien Russlands.
Aber Sie marschieren in Berlin, nicht im Russland der Zukunft....
Und? Wir marschieren in Berlin, um direkt und deutlich zu sagen, dass wir den Abzug der Truppen aus der Ukraine fordern, dass wir Wladimir Putin für einen Kriegsverbrecher halten und dass er nicht in den Kreml, sondern auf die Anklagebank gehört. Und wir setzen uns für die russischen politischen Gefangenen ein. Das sind die drei Themen, die uns verbinden. Wir müssen heute nach den Themen suchen, die uns einen, und unsere Differenzen beiseite legen.
An wen genau richten Sie Ihre Forderungen?
Wir sind die russische politische Opposition, und wir richten unsere Forderungen an die russische Führung. Das heißt natürlich nicht, dass Putin am nächsten Tag Angst bekommt und wegläuft, aber die politische Opposition stellt ihre Forderungen in erster Linie, um ihre Anhängerschaft zu festigen und ihre Positionen zu stärken.
Eine Demonstration richtet sich in der Regel auch an die Politik und die Gesellschaft des Landes, in dem sie stattfindet. Haben Sie irgendwelche Botschaften an Deutschland?
Ich bin kein deutscher Staatsbürger, ich zahle hier keine Steuern, ich bin hier Gast, ein Zwangsgast. Ich glaube nicht, dass ich ein moralisches Recht habe, von der deutschen Regierung etwas zu verlangen. Aber wenn ich gefragt werde, antworte ich. Ich werde zum Beispiel oft gefragt, wie die westlichen Länder der russischen Demokratiebewegung helfen können. Ich sage dann immer dasselbe: Wenn ihr der russischen Demokratiebewegung helfen wollt, befreit bitte die Ukraine von Putin. Wenn ihr die Ukraine Putin überlasst, bringt das große Risiken für das gesamte europäische Sicherheitssystem mit sich, und es verschlechtert die Lage des demokratischen Teils der russischen Gesellschaft erheblich.
Die Verteidigung der Ukraine erfordert Waffenlieferungen. Warum fordern Sie das nicht?
Ich diskutiere nicht über Waffenlieferungen. Ich denke, das ist eine Frage, die die ukrainische Führung mit den westlichen Regierungen besprechen muss. Was ich sage, ist, dass die Ukraine natürlich das Recht hat, sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, und dass sie dabei jede erdenkliche Unterstützung erhalten sollte.
Sie sagen, das Schicksal Russlands werde in der Ukraine entschieden, sind aber nicht bereit, Waffenlieferungen zu fordern. Sehen Sie da nicht einen gewissen Widerspruch?
Ich wiederhole noch einmal: Die Frage der Waffenlieferungen sollte von Präsident Selenskyj angesprochen werden, nicht von einem Vertreter der russischen Opposition.
Im Video-Aufruf zum Marsch sagen Sie, dass nur eine Person einer glücklichen Zukunft Russlands im Wege steht – und das ist Putin. Glauben Sie, dass es keine anderen Hindernisse gibt?
Das Hauptproblem ist natürlich Putin. Er hat diesen Krieg begonnen. Ich bin überzeugt, dass die Entfernung Putins aus dem Amt diesen Krieg noch am selben Tag beenden wird. Es ist nicht der Krieg der russischen Gesellschaft, es ist der Krieg von Wladimir Putin.
Viele Bürger in Russland sammeln in Eigeninitiative Spenden für die Armee, stricken Tarnnetze, organisieren patriotische Veranstaltungen. Auch Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass es eine große Unterstützung für den Krieg gibt.
Ich sehe wenig Unterstützung. Ich sehe keine Schlangen vor den Rekrutierungsbüros. Ich sehe, dass Putin immer mehr Geld an diejenigen zahlen muss, die bereit sind zu kämpfen.
Wollen Sie damit sagen, dass Menschen, die für Geld in den Krieg ziehen, dies nicht aus freien Stücken tun?
Ich glaube, dass es Putin nicht gelungen ist, diesen Krieg zu einem patriotischen Krieg zu machen. Stattdessen hat er eine Söldnerarmee aufgebaut, in die die Leute mit riesigen Geldsummen gelockt werden.
Sie haben mehrfach gesagt, dass Sie den Kampf für die Freilassung der politischen Gefangenen als Ihre Hauptaufgabe betrachten. Worin genau besteht dieser Kampf?
Wir machen mit Kampagnen auf das Schicksal bestimmter politischer Gefangener aufmerksam. Wir organisieren Briefabende, um politische Gefangene moralisch zu unterstützen, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig das ist. Aber die meiste Arbeit besteht natürlich im Dialog mit westlichen Politikern. Wir versuchen, sie von der Notwendigkeit eines neuen Austauschs zu überzeugen. Der russische Staat ist nach wie vor daran interessiert, enttarnte Spione, Hacker und Personen, die an Machenschaften zur Umgehung von Sanktionen beteiligt waren, nach Russland zurückzubringen. Es gibt Gefangene in verschiedenen westlichen Ländern, die für einen Austausch in Frage kommen.
Häufig wird kritisiert, dass ein solcher Austausch trotz der offensichtlichen humanitären Aspekte westliche Regierungen erpressbar mache, russischen Agenten Straffreiheit verschaffe und Russland provoziere, noch mehr politische Gefangene zu nehmen.
Diese Kritik ist leider weitgehend berechtigt. Wer sich der Humanität verschreibt, macht sich oft angreifbar. Es ist wie bei Verhandlungen mit Terroristen, es gibt immer ein Dilemma. Aber es gibt Menschen im Gefängnis, die jeden Moment sterben können. Zum Beispiel Alexej Gorinow, er ist in sehr schlechter Verfassung, hat nur noch einen Lungenflügel, er kann jeden Moment sterben. Da ist Maria Ponomarenko, eine Journalistin, die über politische Prozesse berichtet hat. Da ist ein junger Mann, Arsenij Turbin, der zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er Antikriegsflugblätter in die Briefkästen seines Hauses gesteckt hat. Er war 15 Jahre alt, als er verhaftet wurde. Meiner Meinung nach sollte dieses Dilemma zugunsten solcher Menschen gelöst werden. Aber ich weiß sehr wohl, dass es schwierig ist, mit einem Kannibalen zu verhandeln, und dass Putin immer wieder neue Leute ins Gefängnis stecken kann.