Leiden – und Leid zufügen
- Nikolai Klimeniouk
- 14. Jan. 2023
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Aug. 2024
In Russland herrscht keineswegs allgemeine Verunsicherung, sondern das Gefühl, in einer besonderen Zeit zu leben und Besonderes leisten zu müssen. Wo der Krieg gegen die Ukraine aus dem Ruder läuft, die westlichen Wirtschaftssanktionen greifen, die Eliten das Weite suchen und das Regime isoliert dasteht, stellt man sich Russland als zunehmend morsches Gebilde vor. Doch der Eindruck dürfte trügen.
Veröffentlicht in: NZZ, 14.01.2023

«Ob es euch gefällt oder nicht, Russland wird immer grösser», deklamierte grinsend der Komiker Jewgeni Petrosjan bei der Silvestergala im russischen Fernsehen. Die Gäste, staatstreue Promis und herausgeputzte Militärs, klatschten begeistert Beifall.
Der Satz, der sich im Russischen reimt, war eine doppelte Anspielung. Zum einen erinnerte er an den Spruch, den Putin nach einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Macron kurz vor Beginn der Invasion in die Ukraine geklopft hatte: «Ob es dir gefällt oder nicht, du musst es ertragen, meine Schöne.»
Da standen die Invasionstruppen schon marschbereit vor der ukrainischen Grenze, doch westliche Staatschefs versuchten immer noch, Putin zum Frieden zu überreden. Putins Spruch war wiederum eine Anspielung auf einen allgemein bekannten obszönen Reim. Er geht ungefähr so: «Meine Liebste liegt im Sarg, ich lege mich dazu [und habe Sex mit ihr]. Ob es dir gefällt oder nicht, schlaf, meine Schöne!»
Immer neue Erklärungen
Das ist der Staatshumor der Stunde. Der Komiker Petrosjan schoss danach noch eine Salve von Witzen ab, ohne russisches Gas gebe es weder ukrainischen Borschtsch noch französische Zwiebelsuppe, in Europa baue man bereits Museen des warmen Essens, und schliesslich prostete er der Gutmütigkeit und Milde der russischen Soldaten zu, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, mögen die Beschützer des Vaterlandes bald siegreich heimkehren!
Seit Beginn der Invasion wurden von der russischen Führung verschiedene Kriegsziele genannt, von der «Entnazifizierung und Entmilitarisierung» der Ukraine über die Verhinderung der Nato-Erweiterung und die Vereinigung des vermeintlich geteilten russischen Volkes bis hin zur «Befreiung des Donbass» von der Ukraine und zu jener der Ukraine von «Selenskis Marionettenregime».
Nachdem es nicht gelungen war, Kiew schnell einzunehmen, und keine begeisterten Mengen die «Befreier» mit Blumen begrüsst hatten, wurden von verschiedenen Stellen immer neue Erklärungen geliefert, weswegen Russland in die Ukraine einmarschiert war und wofür es dort kämpft. Nach einer Reihe von bitteren Niederlagen und immensen Verlusten scheinen diese Erklärungen vor allem auf eine geschrumpft zu sein: Russland kämpfe um sein eigenes Überleben. Damit es nicht zu grotesk klingt, wird immer wieder behauptet, der Westen habe Russland zerschlagen wollen, man habe nicht anders gekonnt, als sich dagegen zu wehren. Das sagte zum Beispiel Putin in seiner Neujahrsansprache.
Bei Putin ist es meist schwer zu sagen, ob er lügt oder seine wahnhafte Weltsicht zum Ausdruck bringt. So oder so fliessen in seine Reden die Ideen ein, die in Russland ohnehin verbreitet sind und weitgehend dazu beitragen, dass Leute wie Putin das Land immer wieder regieren.
Erstens sind da das Selbstverständnis der Russen und ihre Sicht von ihrem Land. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb der ehemalige Ministerpräsident des Russischen Reichs Sergei Witte, das grösste Problem sei, dass Russland gar nicht existiere, es gebe nur das Reich. Ähnliches beklagen auch heute russische Blut-und-Boden-Nationalisten. Die buchstäbliche Grenzenlosigkeit dieses Imperiums ohne eine erkennbare Metropole, seine permanente Erweiterung bilden den Kern des russischen Staatswesens. Seine Existenz ist wie Radfahren – Stillstand bringt Russland zu Fall. Sich als Teil dieser Bewegung zu fühlen, ist für viele Russen identitätsstiftend.
Zweitens fehlen in Russland die Tradition und die Instrumente der friedlichen Verwaltung. Der russische Staat lebt seit seinen Anfängen im dauerhaften Ausnahmezustand, den die Machthaber, ob Zaren, Kommunisten oder Putin, ständig aufs Neue reproduzieren müssen. Aus diesem Grund, schrieb der liberale Publizist Maxim Trudoljubow in seinem 2015 erschienenen Buch «Menschen hinter dem Zaun», unterlägen die Parteien der Nachhaltigkeit im Machtkampf stets jenen Spielern, die den jeweiligen Herrscher von immer neuen Gefahren überzeugen und ihm immer neue Gründe für den Ausnahmezustand liefern könnten.
Kein Interesse an einer Verbesserung
Diese Erfahrung schlägt sich, drittens, in den russischen Wertvorstellungen nieder, die sowohl die russische Hochkultur durchziehen als auch das Leben vieler Russen prägen. Das Kriegsjahr 2022 habe die Bevölkerung endlich wieder zum Volk gemacht, schrieb die Journalistin Olga Andrejewa auf Facebook: «Ich glaube, das ist es, worum es im russischen Zivilisationscode geht – durch Leiden bekommen wir unser Recht. Durch Schmerz erreichen wir eine neue Ebene.» Dreissig Jahre habe man versucht, die Russen durch den Wohlstand zu verführen, «aber irgendwie war klar, dass es kein Glück ohne Leid geben würde».
Noch krasser formulierte es die einstige Indie-Rock-Sängerin Julia Tschitscherina, die in den letzten Jahren zur flammenden Apologetin des Kriegs gegen die Ukraine wurde. In einer Videoansprache an die Fans sagte sie mit einem vom Hass verzerrten Gesicht: «Jahrzehnte des Konsumismus haben uns in eine amorphe Biomasse verwandeln wollen. Wir mussten es lange Zeit ertragen.» Jetzt aber sei die Zeit für echte Freiheit gekommen, von der man so lange geträumt habe. Den Ukrainern rät sie: «Ergebt euch! All eure Sünden werden in der Kälte unserer Gulags vergehen. Und ihr werdet gereinigt in unsere russische Welt zurückkehren, die alles zusammenschmelzen wird.»
Es geht also nicht nur darum, selbst zu leiden, sondern auch darum, anderen Leid zuzufügen. Die ukrainischen Philosophen Wolodimir Jermolenko und Wachtang Kebuladze nannten es in ihrem Podcast jüngst die sadomasochistische Prägung der russischen Kultur.
Gewiss denken nicht alle Russen wie Andrejewa oder Tschitscherina, obwohl beide neben viel Spott auch viel Zuspruch ernten. Er wäre aber zu naiv, sie als regimetreue Stimmen anzusehen; sie sind nicht einmal hochbezahlte Propagandistinnen. Vielmehr drücken sie die Stimmung der Basis aus, auf die das Regime erfolgreich bauen kann.
Wie sich diese Lebenshaltung in relativ friedlichen Zeiten manifestiert, zeigt ein Fall aus dem Jahr 2002. Die russische Agrarholding Efko versuchte vergeblich, einheimische Arbeitskräfte für ihre expandierenden landwirtschaftlichen Aktivitäten in der Region Belgorod anzuwerben, und sah sich trotz sehr guten Bedingungen mit zahlreichen Sabotageakten an Geräten und Produktionsanlagen konfrontiert.
Verzweifelt gab die Firma eine soziologische Studie in Auftrag, und diese ergab, dass der Grossteil der örtlichen Bevölkerung, von der etwa 70 Prozent an der Armutsgrenze lebten, kein Interesse an einer Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation oder ihrer Lebensbedingungen hatte. Die einzige Sorge von 60 Prozent der Befragten war die Meinung ihrer Nachbarn, und der Hauptwunsch war, zu verhindern, dass es den Nachbarn besser geht als ihnen selbst. Der Konzern schuf daraufhin eine Art kapitalistische Kolchose mit rigider Führung und kollektiver Haftung der Angestellten. Das hat funktioniert.
Dauerhafter Ausnahmezustand
In seiner Neujahrsrede verkündete Putin stolz, Russland habe endlich die echte Souveränität erlangt und könne jetzt machen, was es wolle. Der Westen habe versucht, Russland mit Sanktionen zu zerstören, aber seine Wirtschaft sei robust. Russlands Resilienz ist in der Tat erstaunlich.
Weder die wirtschaftliche Isolation und der damit einhergehende Absturz des Lebensstandards noch die hohen Zahlen der Gefallenen und Verletzten führen zum gesellschaftlichen Tumult. Zwar sind viele Russen vor den Repressalien und der Mobilisierung ins Ausland geflohen, gleichzeitig werden aber noch mehr eingezogen oder melden sich sogar freiwillig zum Kriegsdienst.
Eine dünne Wohlstandsblase in Moskau und Sankt Petersburg kann noch so lange so tun, als geschehe nichts, die Mehrheit der Bevölkerung lebt schon im dauerhaften Ausnahmezustand. Man darf seine Wirkung nicht unterschätzen. Anstatt deprimiert zu sein, empfinden viele Russen Not und Widrigkeiten als motivierend. Erst dadurch füllt sich ihr Leben mit einem höheren Sinn, und ihre Misere wird zu etwas Erhabenem.
Wenn es im ganzen Land knallt – mal brennt eine Rüstungsfabrik, mal ein Einkaufszentrum –, führt es nicht, wie man es anderswo erwarten könnte, zur Verunsicherung und zum Chaos, sondern verstärkt das Gefühl, in einer besonderen Zeit zu leben und Besonderes leisten zu müssen.
Dass der Krieg gegen die Ukraine auch die eigene Wirtschaft ruiniert, scheint kein wirkliches Problem zu sein. Mangels Komponenten aus dem Ausland kann man, wie es gerade eine Motorenfabrik bei Nischni Nowgorod tut, die Produktion von einem in den fünfziger Jahren entwickelten V8-Verbrenner aufnehmen mit Dichtungen aus Pferdehaar.
Russland konnte nicht umhin, diesen Krieg anzufangen, jetzt ist es in diesem Krieg gefangen. So gesehen kämpft es dort tatsächlich um seinen Fortbestand. Es kann sich nicht einmal durch einen Kompromiss aus der Ukraine zurückziehen, das käme der Selbstversklavung gleich, als gebe man die langersehnte und endlich erlangte Freiheit wieder auf.
Ein Russland, das sich nicht erweitern kann, verliert für einen Grossteil seiner Bevölkerung seine Existenzberechtigung und das Regime seine Legitimität. Deswegen ist es so wichtig, dass Russland diesen Krieg verliert. Die Niederlage muss bitter, ja vernichtend sein. Sonst muss sich Russland, solange es in seiner jetzigen Form existiert, immer erweitern, ob es einem gefällt oder nicht.