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Nicht nur Putin ist verrückt

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 24. Feb. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Sogar die Leute im innersten Zirkel des russischen Präsidenten glauben nicht mehr, was er erzählt. Er lebt in seiner eigenen Wirklichkeit. Deutsche Politik aber offenbar auch.

Veröffentlicht in FAZ, 24.02.2022


Screenshot FAZ.net

Die Szenen, die sich in russischen Machtorganen in den letzten Tagen abspielen, mögen wie eine schwarze Komödie wirken. Heiter sind sie nicht. Sie machen vor allem deutlich, dass die ganze Macht in Russland bei einem Menschen liegt, Wladimir Putin. Und ihm geht es offenbar ausschließlich darum, diese Macht vorzuführen, der ganzen Welt, seinem Volk und nicht zuletzt seiner eigenen Gefolgschaft. Der russische Einmarsch in die Ukraine dient ebenfalls einzig diesem Zweck.


Sergej Naryschkin war einst ein mächtiger Mann. Er war mal Sprecher der russischen Duma und Chef der Präsidialverwaltung, als diese Verwaltung potenter war als der Präsident, der damals Dmitrij Medwedew hieß. Auch jetzt bekleidet er wichtig klingende Posten: Er ist Direktor des Spionagedienstes SWR und Mitglied des sogenannten Sicherheitsrats, der momentan als die eigentliche Machtzentrale Russlands gilt. Oder galt, bis zu seiner am Montag öffentlich übertragenen Sitzung, bei der es um die Anerkennung der Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten ging. Naryschkins Stimme zitterte, er verhedderte sich in verschachtelten Sätzen. Putin, der etwa fünfzehn Meter entfernt von anderen Ratsmitgliedern an seinem Tisch thronte, schaute missbilligend zu. Man solle „unseren westlichen Partnern“ eine Chance geben, sagte Naryschkin, sonst müsse Russland die Entscheidung treffen, um die es gehe.

„Was heißt hier eigentlich „sonst?““, unterbrach ihn Putin mit höhnischem Grinsen. „Schlagen Sie etwa vor, Verhandlungen aufzunehmen?“

„Nein, ich…“

„Oder schlagen Sie vor, ihre Souveränität anzuerkennen?“

„Ich sch… sch… sch…“ , stotterte der siebenundsechzigjährige ordentliche Staatsrat der 1. Klasse.

„Sprechen Sie direkt!“

„Ich werde den Vorschlag unterstützen…“

„Sie werden oder Sie unterstützen?“

„Ja, ich unterstütze den Vorschlag über den Beitritt der Donezker und Lugansker Volksrepubliken zur Russischen Föderation“.

„Aber davon sprechen wir doch gar nicht,“ lachte Putin.

Die Kamera machte einen Schwenk zu den im Halbkreis platzierten Ratsmitgliedern, die in erstarrten Posen auf ihren Stühlen hockten.


Die Formel, die in deutschen Medien und Politik seit Jahren wiederholt wird, lautet, der Krieg entspreche nicht den russischen Interessen. Die angstverzerrten Gesichter der obersten Amtsträger Russlands drückten unmissverständlich aus, dass der Krieg nicht einmal deren eigenen, höchstprivaten Interessen entspricht. Und trotzdem traten sie einer nach dem anderen an das Rednerpult und trugen vor, warum Russland jetzt die sogenannten Volksrepubliken anerkennen soll. Die Redner bemühten sich nicht einmal, überzeugt zu wirken, wenn sie Schaudermärchen über die Ukraine erzählten. Lediglich der Kommandant der Nationalgarde Viktor Solotow, Putins oberster Leibwächter, wirkte relativ entspannt und klang authentisch, als er meinte, es gebe keine russisch-ukrainische Grenze, sondern nur russisch-amerikanische.


Als ich Sergej Naryschkin vor etwa zehn Jahren bei einem „Hintergrundgespräch“ mit einer kleinen Gruppe von Chefredakteuren in der Nachrichtenagentur Interfax erlebte, war er derjenige, der dieses selbstgefällige sadistische Grinsen trug, als er, damals der Dumasprecher, eine neue Portion der repressiven Gesetze ankündigte. In seine Amtszeit fielen die Antihomosexuellen- und die Anti-NGO-Gesetze und die drastische Verschärfung des Versammlungsrechts. Das Einzige, was an ihm neben diesem Grinsen auffiel, war seine Uhr, die deutlich mehr kostete, als die meisten in der Runde im Jahr verdienten. Man schaute genau hin, weil solche Uhren damals zum sichtbarsten Symbol der Korruption der russischen Führung wurden. Schließlich war es auch eine Uhr, die des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, die die vermeintliche Live-Übertragung der Sitzung des Sicherheitsrats als eine Aufzeichnung verriet: am späten Nachmittag zeigte sie Mittag. Da wurde es noch deutlicher, dass die öffentliche Erniedrigung Naryschkins zur Inszenierung gehörte.


Unmittelbar nach dieser Show zeigte das russische Fernsehen Putins einstündige Ansprache, in der er seine eigentümliche Sicht der Geschichte darlegte und, darauf bezogen, der Ukraine das Existenzrecht absprach. Das klang so irre, dass der niederländische Premier Mark Rutte entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten Putin als wahnsinnig bezeichnete. Dabei war Putins Nonsens nicht neu und nicht einmal besonders russisch. So ähnlich, fast in gleichen Worten, äußerte sich der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt in einem Interview im Jahr 2014 kurz nach der Annexion der Krim: „Die Politik des Westens basiert auf einem großen Irrtum: dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität. In Wahrheit gibt es die Krim, die Ost- und die West-Ukraine. Die Krim kam erst in den 50er Jahren durch ein „Geschenk“ Chruschtschows zur Ukraine. Die West-Ukraine besteht größtenteils aus ehemaligen polnischen Gebieten, allesamt römisch-katholisch. Und die Ost-Ukraine, überwiegend russisch-orthodox, liegt auf dem Gebiet der Kiewer Rus, dem einstigen Kerngebiet Russlands.“ Damals wurde in Deutschland jeder Aufruf, der russischen Aggression entschieden entgegenzutreten, als Kriegshetze abgetan, und zwar nicht nur von Schmidt. Frank-Walter Steinmeier, zu jener Zeit Außenminister, ging sogar so weit, der Nato das Säbelrasseln gegenüber Russland vorzuwerfen.


Für den größten Spott in russischen und ukrainischen sozialen Medien sorgte Putins Behauptung, die Ukraine sei eine Erfindung Lenins. Die Botschaft der Vereinigten Staaten in der Ukraine reagierte mit einem lustigen Tweet: Eine Reihe von frühmittelalterlichen Kirchen aus Kyjiw mit Entstehungsdatum, daneben immer dasselbe Bild von einem Dickicht, betitelt „Moskau“. Dieser Spott hat allerdings einen Schönheitsfehler: Putin übernahm die verrückte Idee fast wörtlich von Rosa Luxemburg. „Der ukrainische Nationalismus war nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur ... Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem »Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich« usw. künstlich zu einem politischen Faktor auf“. Diese unlängst von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unkommentiert wiederaufgelegte Hetzschrift liest sich besonders schräg in der Zeit, in der man alle historischen Figuren mit Hinblick auf ihre kolonialen oder rassistischen Ansichten infrage stellt.


In Deutschland mangelt es heute nicht an schräger Lektüre. Am 15. Februar twitterte der Bundeskanzler Scholz, es könne keine Sicherheit in Europa gegen, sondern nur mit Russland geben. Just eine Woche später trafen die russischen Machtorgane die formelle Entscheidung, nicht nur die de facto besetzten Gebiete, sondern die gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anzuerkennen und dorthin die Truppen zu entsenden. Was hat sich Scholz dabei gedacht? Als er dann schweren Herzens das vorläufige Aus für Nord Stream 2 verkünden musste, reagierte der russische Ex-Irgendjemand Dmitrij Medwedew darauf mit einem deutschsprachigen Tweet: „Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Stopp der Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2 angeordnet. Na ja. Herzlich willkommen in einer neuen Welt, wo Europäer bald schon 2000 Euro pro Kubikmeter Gas zahlen werden“. Noch vor wenigen Wochen nannte Scholz die Pipeline „ein rein privatwirtschaftliches Vorhaben“, über dessen Eignung „eine Behörde in Deutschland ganz unpolitisch“ entscheide. Putin ist nicht der Einzige, der in einer Fantasiewelt lebt.


Jene Sanktionen, mit denen die Europäische Union nun auf die russische Kriegserklärung antwortet, wirken nicht weniger realitätsfremd. 351 Duma-Abgeordnete und ein paar Oligarchen dürfen ab jetzt nicht mehr nach Europa. „Kein Shopping mehr in Mailand, keine Partys in Saint Tropez,“ twitterte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Diese lächerliche Strafe ist nicht nur zu milde, sie kommt auch zu spät.


Der russische Botschafter in Schweden sagte vor einigen Tagen, Russland „scheiße“ auf die Sanktionen, und brachte es damit eigentlich auf den Punkt. War es im Jahr 2008, nach Russlands Überfall auf Georgien, oder sogar 2014 noch vorstellbar, dass der Druck auf Putins Umgebung etwas bewirken könnte, zeigen die Bilder der vor Angst zitternden Mitglieder der einstigen russischen Machtelite: Es gibt in Russland keine kollektive Führung mehr, es gibt niemanden, der Putin mäßigen könnte. Deutschland hat mit seiner Naivität und Untätigkeit Putin mitgeholfen, eine uneingeschränkte personalistische Diktatur zu etablieren, die nur seinen eigenen Interessen dient und seine Gelüste befriedigt. Und ihn gelüstet es nach Krieg. Das ist die Realität, in der die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit endlich langsam aufwachen.

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