Patrioten essen keinen Parmesan
- Nikolai Klimeniouk
- 22. Mai 2016
- 6 Min. Lesezeit
Erst Knappheit, dann Völlerei und jetzt Lebensmittelvernichtung: In Russland war Nahrung schon immer ein Herrschaftsinstrument. Und Kiewer Kotelett nennt sich nun paniertes Hühnerbein.
Veröffentlicht in: FAS, 22.05.2016

Ein liberaler russischer Politikwissenschaftler aß in einem deutschen Restaurant holländischen Hering. Dieser schmeckte ihm so gut, dass er auf Facebook schrieb, der russische Hering sei eine schwache Kopie des holländischen Originals, des platonischen Hering-Eidos, so wie viele andere russische Delikatessen übrigens auch. Und dann blieb ihm dieser Hering im Hals stecken. Die patriotische Facebook-Öffentlichkeit tobte wie die Nordsee im Winter. Den Eidos-Vergleich fand sie nicht sonderlich witzig, dafür hochgradig verräterisch und geradezu debil: so seien sie eben, die Liberalen, sie hassen und verleumden alles Russische, sei es auch nur der Hering. Offenbar traf der Autor einen wichtigen russischen Magendarmnerv.
In Russland isst man eigentlich nie einfach so, sondern meistens irgendwie politisch. Immer wieder fällt irgendeinem Lebensmittel eine besondere symbolische Bedeutung zu. Heute ist es zum Beispiel der verbotene Parmesankäse. Und in der halbhungrigen Zeit Ende der achtziger Jahre war es die Wurst. Die Wurstzüge und Wurstbusse brachten nach Moskau oder Leningrad Wursttouristen aus der Provinz, die die sprichwörtliche Wurst und andere ganz normale Lebensmittel aufkauften, so dass die Sowjetregierung zum Schluss überall Einkaufsausweise für Einwohner einführte. Wer nicht in einer halbwegs gut versorgten Metropole wohnte, musste sich mit fauligen Kartoffeln, Birkensaft und zu Matsch zerkochenden „Makkaroni- Erzeugnissen“ begnügen. Auf diese Erzeugnisse, diese Verhöhnung des italienischen Maccheroni- Eidos, komme ich noch zu sprechen. Die damalige Massenauswanderung nach Israel und in den Westen nennt man heute noch verächtlich „die Wurstemigration“. Der Wunsch, gut zu essen, hat in Russland keinen guten Ruf. Als die Lage zu schlimm wurde, kam der Westen zu Hilfe mit tiefgefrorenen „Bush-Schenkeln“ aus Amerika und der „Humanitarka“ aus der Bundesrepublik. Zu aller Erniedrigung weckten die grauen Laster der Bundeswehr, die die humanitäre Hilfe transportierten, ungute Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg.
Die Lebensmittelknappheit der späten Sowjetzeit war keineswegs ein tragischer Zufall, sondern vielmehr die logische Folge der sowjetischen Praxis, Nahrung als Herrschaftsinstrument einzusetzen. In nur wenigen Jahren nach dem Oktoberputsch im agrarischen Russischen Reich zerstörten die Bolschewiken mit ihren Enteignungen, dem Kriegskommunismus und der Kollektivisierung die Landwirtschaft, um aus reaktionären Bauern fortschrittliche Industriearbeiter zu machen. Da es trotzdem nicht ganz klappte, orchestrierte Stalin 1932–33 eine Hungersnot, die bis zu acht Millionen Menschen, vor allem auf dem Land, das Leben kostete. Die NKWD-Einheiten nahmen den Hungernden, die ihre Wohngebiete nicht verlassen durften, alle Vorräte und das Saatgut weg; wer buchstäblich „drei Ähren“ vom Kolchosfeld mitnahm, wurde erschossen. Die Erinnerung daran ist in den betroffenen Gebieten noch lebendig – nicht nur in der Ukraine, die das größte Leid trug, sondern auch in der Russischen Föderation. Die Großeltern brachten ihren Enkeln bei, kein Essen wegzuwerfen und nichts auf dem Teller zu lassen.
In dieser Zeit liegen übrigens auch die Ursprünge dessen, was man heute irrtümlicherweise für die russische Küche hält. In Wahrheit sind es Essgewohnheiten sowjetischer Städte, eine Mischung aus einigen regionalen Gerichten – vom krimtatarischen Schaschlik über russischen Pelmeni bis zum ukrainischen Borschtsch –, standardisierten Kantinensortimenten und spezifischen Produkten sowjetischer Lebensmittelindustrie, die in der Regel westliche Klassiker ungefähr nachahmte. Dazu gehören auch die unsäglichen Weichweizen-Makkaroni, die man wie Kartoffelpüree als Beilage zu Buletten oder Gulasch nahm und die man beim besten Willen nicht bissfest kochen kann. Die Abkehr von diesem kulinarischen Ungetüm ist wohl die wichtigste bleibende Folge des Wohlstands der zweitausender Jahre.
Die Sowjetunion hielt ihre Bürger stets auf halber Ration. Wenn die Menge ausreichte, mangelte es an der Auswahl. Dafür gab es ausufernden Überfluss in Filmen, Kochbüchern und in den „Verteilern“ für die Nomenklatura, auch wenn sie in Wirklichkeit viel bescheidener waren als die Propaganda. Die Hungrigen sind zu allem bereit, die Halbhungrigen dagegen demütig und fügsam. Besonders konsequent ist man damit in russischen Gefängnissen und bei der Armee. In einer Soldatenkantine, in der ich 1987 einen Freund besuchte, hingen an der Wand – wohl um die Erniedrigung vollkommen zu machen – zwei Sprüche: „Brot ist wertvoll, nimm dir nicht zu viel“ und „Iss Karotten, Lauch und Kren, sei wie die Sophie Loren“. Das Volksaufbegehren während der Perestroika hatte nicht zuletzt mit solchen Sprüchen, leeren Geschäften und drohendem Hunger zu tun.
1990, als in Moskau das erste McDonald’s eröffnete, galt der Hamburger als Symbol der Befreiung. Vor dem mit Ansichten von New York, Paris und anderen Welthauptstädten dekorierten Fast-Food-Tempel standen kilometerlange Schlangen. Es waren sicher zum großen Teil dieselben Menschen, die im August 1991 auf die Straße gingen, um die Demokratie vor den Putschisten zu verteidigen. Zehn Jahre später hatten die Russen zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig volle Geschäfte, genug Geld und auch ungewohnt viel Freiheit. Damals war das Land, anders als jetzt, noch wissbegierig und weltoffen. Die Bürger nahmen diese Freiheit tagtäglich in Supermärkten, Cafés und Restaurants zu sich, verleibten sie sich in Form von Pasta und Parmaschinken, sonnengetrockneten Tomaten, Rucola und Camembert regelrecht ein.
Das war eine Dekade des triumphalen Einzugs von mediterraner Diät und Sushi in den russischen Alltag. Irgendwann gab es Pizza in jedem Kaff, und Sushi stand auf fast jeder noch so einfachen Speisekarte neben Bratkartoffeln und dem allgegenwärtigen amerikanischen Caesar’s Salad. Ein Intellektueller nach dem anderen wurde zum Koch und Kochbuchautor, Restaurantbetreiber wurden zu Prominenz und Prominente zu Restaurantbetreibern. Ein Spaziergang durch Moskau glich einer kulinarischen Weltreise. Im öffentlichen Leben gab es immer mehr Essen und immer weniger Freiheit. Es hieß, man habe sie gegen den Wohlstand ausgetauscht. Ein Kolumnist, der damals als sehr fortschrittlich galt, schrieb in einer Zeitschrift, die nicht mehr lange zu leben hatte: „Wir dürfen nicht vergessen, dass alle unsere Lieblingsrestaurants in Putins Zeit entstanden. Eigentlich haben wir sie ihm zu verdanken.“
Und dann war Schluss. Zuerst klang es noch lustig. Das Staatsfernsehen unterstellte den Teilnehmern von Massenprotesten gegen gefälschte Wahlen von 2011, sie hätten sich von der amerikanischen Botschaft mit Keksen füttern lassen. Diese Kekse wurden zum geflügelten Wort, für einige wenige ein Symbol für die Absurdität von Propaganda, für die meisten ein Sinnbild der subversiven Liberalen, die den Amerikanern aus der Hand essen. Dann kam die Sache mit der Ukraine, wo nach Ansicht der meisten Russen eine faschistische Junta mit amerikanischer Hilfe die Macht übernommen hatte. Prompt wurden ukrainische Restaurants zu Restaurants der „slawischen Küche“ und Kiewer Kotelett zum panierten Hühnerbein. So ähnlich taufte man in Stalins Zeit Pariser Baguettes in „städtische Weißbrote“ um.
Als die Sache mit der Ukraine richtig ernst wurde und der Westen die Annexion der Krim und den schleichenden Einmarsch der russischen Truppen in den Donbass mit Sanktionen bestrafte, antwortete Putin mit Gegensanktionen und verbot europäische und amerikanische Lebensmittelimporte. Den russischen Verbraucher traf das wesentlich schmerzlicher als die westlichen Landwirte. Zum Beispiel gab es auf einmal fast keinen Käse, denn selbst die einfachsten russischen Käsesorten mit heimischen Namen wurden aus Litauen und Polen importiert. Die unzufriedenen Stimmen wurden als Aufschrei der Verfressenen verspottet, denen Parmesan wichtiger sei als der Stolz des Vaterlandes.
Nun richtet sich das stolze Land in dieser neuen Gegenwart ein. Die Parmesan-Nostalgiker kaufen sich in Europa satt und betreiben einen kleinen Privathandel mit „Sanktionka“, dem verbotenen Essen. Der Zoll und die Verbraucherschutzbehörde lassen Hunderte von Tonnen illegal importierter Äpfel, Tomaten, Birnen, Champignons oder Käse vor laufenden Kameras von Baggern zermatschen. Eine Dorfverwaltung tut dasselbe mit drei ungarischen Gänsen, die wachsame Bürger im Dorfladen entdeckten. Patriotische Restaurantbesitzer in der Olympiastadt Sotschi beerdigen in der orthodoxen Karwoche feierlich 200 Kilo Caesar’s Salad in einem Sarg – als Geste der Rückbesinnung auf die heimatlichen Werte. Die Prozession mit Leichenwagen und Orchester zog durch die ganze Stadt. Am selben Tag erklärte der Handelsminister der Moskauer Stadtverwaltung im hölzernen Amtssprech, man werde alle Dönerbuden aus der Stadt vertreiben: „So ein Format ist im Lageplan des Straßenhandels nicht vorgesehen.“
Die neueste russische Wortschöpfung „Rasreschonka“ – erlaubtes Essen – ziert die Ankunftshalle des Moskauer Scheremetjewo- Flughafens. Ein Feinschmeckerladen wirbt dort mit dem Slogan: „Wir begrüßen Sie mit Rasreschonka“. Der freie Wille endet an der Passkontrolle, danach gibt es nur noch erlaubtes Essen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der russische Bevormundungsstaat dem platonischen idealen Staat mit seiner kleinen über alles bestimmenden Herrscherclique, dem Wächterstand, der Zensur und totalen Verstaatlichung wesentlich mehr ähnelt als der russische Hering seinem holländischen Eidos. Wenn der Staat bestimmt, was man essen darf und was nicht, beraubt er seine Bürger auf dem schnellsten Weg ihrer Würde und macht sie zu unmündigen Untertanen. Und wenn sie sich fügen, dann ist es egal, was sie essen – sie essen immer von der Hand.