Putins deutsche Sockenpuppen
- Nikolai Klimeniouk
- 3. Apr. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Sept. 2024
Russland führt seit zehn Jahren Krieg gegen die Ukraine und den Westen. Kremlchef Putin will unsere Demokratie vernichten. Das wollen viele nicht verstehen. Ihre Devise: Egal, wie schlimm es ist, weiter so. Eine Analyse.
Veröffentlicht in: FAZ, 03.04.2024 unter dem Titel "Putins deutsche Sockenpuppen" und auf FAZ.net unter dem Titel "Wie deutsche Politiker Putins Krieg möglich machen".

Vor zehn Jahren ist Russland in den Donbass einmarschiert und hat die Krim annektiert. Vielen Menschen war sofort klar, dass diese Ereignisse die Welt und unser aller Leben unumkehrbar verändern würden. Aber wie sollte die neue Welt aussehen? Im Donbass herrschten plötzlich Krieg und Terror. Die Krim, wo man immer gegen alles Mögliche protestierte, erwachte in einer Diktatur, in der man für friedlichen Protest zwanzig Jahre ins Gefängnis kam wie der Regisseur Oleg Senzow oder krimtatarische Aktivisten. Auch für Russland waren diese zwanzig Jahre Gefängnis neu, denn bis dahin bekam man für friedlichen Protest in der Regel zwei Jahre, „das Zweierchen“, wie Putin zu einem solchen Urteil sagte. Die Ukraine hingegen mit ihren damals noch etwa dreizehntausend Gefallenen und Millionen Binnenflüchtlingen begann sich mehr und mehr als eine demokratische Bürgernation zu begreifen.
Die Krim-Annexion vergiftete langsam auch europäische Gesellschaften, die keine klare Position dagegen bezogen haben. Wer heute besorgt auf die neue politische Landschaft in Deutschland mit einer erstarkten AfD, populistischen Parteigründungen und der schwächelnden Mitte blickt, sollte sich bewusst sein, dass die inkonsequente Russlandpolitik eine wichtige Rolle bei dieser Transformation gespielt hat. Im Gegensatz zu den meisten anderen außenpolitischen Themen stand Russland die ganze Zeit im Mittelpunkt der Berichterstattung, deswegen traten die Widersprüche dieser Politik besonders deutlich zu Tage. Und da es nicht zuletzt um Energiepreise ging, fühlte es sich weniger abstrakt als etwa die umstrittenen Waffendeals mit Saudi-Arabien.
Es gehört inzwischen in Deutschland zum guten Ton, auf die Fehler der Russlandpolitik hinzuweisen: Man habe falsche Signale an Putin gesendet und ihn dadurch zum groß angelegten Angriff ermutigt. Doch dieselben Signale gingen auch nach innen. Führende Zeitungen brachten Berichte ihrer Korrespondenten über krasse Menschenrechtsverletzungen in Russland, Misshandlungen von Andersdenkenden, Zerschlagung der freien Medien, Unterdrückung aller erdenklichen Minderheiten und ideologische Indoktrination. Gleichzeitig erschienen in denselben Zeitungen Gastbeiträge und Appelle, die Verständnis für Russlands Verbrechen (die man natürlich so nicht nannte) forderten und der Ukraine nahelegten, auf die besetzten Gebiete im Namen des Friedens zu verzichten.
Die tatsächlichen Entscheidungen der deutschen Politik, die der Ukraine aufgezwungenen Minsk-Verträge und vor allem der Bau der Pipeline Nord Stream 2, folgten insgesamt diesen Empfehlungen. Deutlicher konnte man der deutschen Gesellschaft nicht signalisieren, dass demokratische Grundsätze eigentlich verhandelbar sind und dass man es mit der Menschenwürde nicht so ernst nimmt. Zumindest mit der Würde der anderen, wenn man schon den Ukrainern ohne weiteres zumutet, in einer Tyrannei zu leben statt in einer wie auch immer unvollkommenen Demokratie. Dann kann man noch so viele öffentliche Mittel in die Demokratieförderung und Initiativen gegen Rechts investieren, keine politische Bildung ist so wirksam wie diese Heuchelei.
Eines der lautesten Signale dieser Art war ein im Dezember 2014 veröffentlichter Text mit dem Titel "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!", zu dessen 60 Unterzeichnern neben Russlandlobbyisten der Altkanzler Schröder, der Altbundespräsident Herzog, eine ganze Reihe von ex-Bundesministern und andere einstige höchste Repräsentanten der deutschen Demokratie gehörten. Zehn Jahre später liest sich der Appell fast wie eine von Putins wirren geschichtsklitternden Reden: Man habe das legitime Sicherheitsbedürfnis Russlands ignoriert und es mit der Ausdehnung des Westens nach Osten bedroht. Der Text strotzt von bizarrer Geografie, an einer Stelle ist von der europäischen Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok die Rede, es wird auch direkt gelogen: Man werde die Furcht der Russen verstehen, nachdem man 2008 die Ukraine und Georgien eingeladen habe, der Nato beizutreten. Tatsächlich wurden die Beitrittsgesuche beider Länder abgelehnt und Russland marschierte noch im selben Jahr in Georgien ein. Wen soll es wundern, dass Leute wie Björn Höcke und Sahra Wagenknecht mit ihrer Anti-Nato-Rhetorik Teile der deutschen Wählerschaft erreichen, wenn selbst ein Ex-Kanzler und hohe Sicherheitsfunktionäre das Verteidigungsbündnis als eine furchterregende Bedrohung darstellen.
Reinhard Veser schrieb damals in der FAZ, eine demokratische Gesellschaft brauche einen Grundkonsens darüber, was Schwarz und was Weiß ist, die deutsche Debatte über Russland und die Ukraine sei aber vom Unwillen geprägt, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Dieser Unwille hat sich in den Folgejahren auch in anderen Zusammenhängen immer wieder gezeigt, etwa bei der Flüchtlingskrise und der Covid-Pandemie. Da mischte Russland ebenfalls mit, und der Begriff „hybrider Krieg“ etablierte sich auch in Deutschland. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wurde indes hartnäckig als „Konflikt“ bezeichnet, als ob die Ukraine irgendwie mit daran schuld wäre. Der „hybride Krieg“ war hingegen sehr hilfreich, um die Verantwortung von sich zu weisen. Es waren aber keine russischen Agenten, die immer wieder Russlandlobbyisten gegen alle Einwände aus Fachkreisen in die Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender einluden oder etwa Sahra Wagenknecht.
Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) liegt in bundesweiten Umfragen bei zwischen 5 und 7 Prozent, nach einer Allensbach-Studie halten 24 Prozent der Befragten BSW für wählbar, in Ostdeutschland sogar 40 Prozent. Es ist diese Partei, die als möglicher Juniorkoalitionspartner zumindest in den neuen Bundesländern Rechtsextremisten an die Macht bringen könnte. Dabei ist das am häufigsten genannte inhaltliche Motiv für die Hinwendung zum BSW laut Studie die Haltung zu Russland.
Die Bereitschaft, die Ukraine im Krieg gegen Russland zu unterstützen, bestimmt zurzeit über Parteigrenzen hinweg die Neuordnung der deutschen politischen Landschaft. Bundeskanzler Scholz mit seiner Taurus-Absage oder SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit seinem Vorschlag, den Krieg einzufrieren, bekommen Beifall von der AfD und BSW und Rügen von Koalitionspartnern und aus den Reihen der eigenen Partei. „Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren“ könnte das Motto der gesamten deutschen Politik sein: Egal wie schlimm es ist, weiter so.
Alles, was irgendwie mit Russland zu tun hat, bleibt in Deutschland auf eine fast magische Art ohne Konsequenzen. Der Hackerangriff hat im Mai 2015 den Bundestag für mehrere Tage lahm gelegt, viele sensible Daten wurden gestohlen. Die Ermittler vermuteten schon früh, dass es eine Operation der russischen Geheimdienste war, doch anders als die NSA-Affäre hat das die deutsche Öffentlichkeit wenig beschäftigt. Die Bundesregierung brauchte fünf Jahre, um Russland offiziell zu beschuldigen und Sanktionen zu verhängen. Dabei hätte allein schon der Tatverdacht ausgereicht, um Kooperationen zu drosseln. Stattdessen wurden noch 2015 Teile der kritischen Energieinfrastruktur, nämlich ein Viertel aller deutschen Gasspeicher, an eine Gazprom-Tochtergesellschaft verkauft. Dieses Projekt wurde zuvor wegen der Krim-Annexion auf Eis gelegt.
Russland ging ebenfalls dem Business as usual nach. 2016 versuchte es in ganz Deutschland Unruhen wegen einer erfundenen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge zu stiften, zerstörte in Syrien Städte, um den Diktator Assad vor dem Sturz zu retten und noch mehr Menschen auf die Flucht nach Europa zu treiben, und verübte einen Hackerangriff auf die Parteizentrale der CDU. Außenminister war damals Frank-Walter Steinmeier.
Eigentlich hätte jemand wie Steinmeier in einer gut funktionierenden Demokratie wegen seiner Beteiligung an gravierenden Fehlentscheidungen vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gestellt werden sollen. Stattdessen wurde er 2017 zum Bundespräsidenten gewählt und am 13. Februar 2022, da standen die russischen Truppen schon marschbereit an der Grenze zur Ukraine, in diesem Amt bestätigt. Wenige Wochen später wussten alle deutschen Verbraucher, dass die Gasspeicher leer waren, Russland hat sich auf den Krieg gegen die Ukraine auch in Deutschland vorbereitet.
Das Amt des Bundespräsidenten hat vor allem symbolische Bedeutung, und Steinmeier steht wie kein anderer dafür, dass man in Deutschland für nichts Verantwortung übernehmen muss und dass man es von einem Politiker gar nicht mehr erwartet. Vor dem Hintergrund der großen Lügen der Russlandpolitik sind etwa Plagiate zu Bagatelldelikten geschrumpft. Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung von 2023 zufolge ist etwa die Hälfte der Deutschen mit der Demokratie unzufrieden, laut einer Allensbach-Umfrage von 2022 glauben 31 Prozent, in einer Scheindemokratie zu leben. Offensichtlich wirkt eine Demokratie, die sich von einer Despotie nicht richtig abgrenzen kann, nicht besonders überzeugend.