Byzanz ist jetzt für immer
- Nikolai Klimeniouk
- 29. Sept. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. Sept. 2024
Das Original geht in der Fälschung auf: In Sewastopol, wo die antike Siedlung Chersones stand, gibt es jetzt einen Themenpark der Putin-Fassung der russischen Geschichte.
Veröffentlicht unter dem Titel "Putins Russen-Disney" in: FAS, 29.09.2024

Im Spätsommer 2024 eröffnete im annektierten Sewastopol auf der Krim ein Märchenpark der russischen Geschichte. Er heißt Neu-Chersones und wurde in weniger als zwei Jahren auf dem Gelände der antiken griechischen Siedlung Chersones gebaut, die seit 2013 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, aber wohl nicht mehr lange. Seit gut 200 Jahren wird in Chersones gegraben, doch jetzt, so die amtliche Erklärung, sei endlich alles entdeckt worden, mehr als drei Millionen Artefakte. Die Wiege des russischen Christentums, so ein Staatsfernsehbericht, sei vom Bautrupp der russischen Armee ganz neu im byzantinischen Stil errichtet worden. Es herrsche die Atmosphäre einer antiken Stadt, die mehr als zweieinhalbtausend Jahre alt ist.
Disneyland und Las Vegas
Es könnte ein lustiges Spiel sein, aufzuzählen, woran diese Anlage alles erinnert: an Disneyland und Las Vegas, an Themenhotels an der türkischen Riviera, an außerirdische Siedlungen aus alten „Star Trek“-Folgen. Nur nicht an eine byzantinische Stadt. Auf dem 23 Hektar großen Gelände befinden sich drei Museen, ein Hotel, als antike Funktionsbauten getarnte Cafés, Restaurants, Museumsshops und ein Parktempel, in dem Hochzeiten gefeiert werden können. Das Museum des Christentums ist noch geschlossen, aber man sieht schon, dass es eine Kuppel hat wie die Hagia Sophia in Konstantinopel, nur angeblich ein bisschen größer. Unter jedem großen Gebäude gibt es einen Luftschutzbunker, da merkt man, dass alles doch kein Spiel ist. Der russische Gouverneur des besetzten Sewastopol, Michail Raswoschajew, bezeichnete den Park als Verteidigungsbastion im hybriden Krieg, den der Westen gegen Russland führe.
Im neuen Park von Chersones treffen sich gleich mehrere russische Traditionen. Die eine geht auf die Moskauer Großfürsten zurück, die Moskau als Drittes Rom und sich als Erben der byzantinischen Kaiser sahen, den Zarentitel beanspruchten. Gleichzeitig erklärten sie ihr Reich zum einzigen Nachfolger des mittelalterlichen Staatenbundes Kyjiwer Rus. Katharina II. verfolgte den Plan, alle orthodoxen Länder Europas in einem Imperium zu vereinen und einen ihrer Enkel auf den Thron von Konstantinopel zu setzen. Von diesem Plan konnte nur ein Teil verwirklicht werden. Die Einverleibung des Krimer Khanats war, symbolisch gesehen, die wichtigste Eroberung, der direkte Anschluss an Byzanz.
Von Anfang an eine Antikenattrappe
Chersones gilt als Taufstätte des Kyjiwer Fürsten Wladimir, der 988 zum Christentum übertrat, um die byzantinische Prinzessin Anna heiraten zu können. Als Russland 1783 die Krim annektierte, existierte Chersones nicht mehr. Neben der alten Siedlung wurde die Hafenstadt Sewastopol gegründet. Dies war einer der vielen pseudogriechischen Namen, die Katharina den Städten in den eroberten Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres gab.
Die ganze Region, etwa die südliche Hälfte der heutigen Ukraine, wurde „Neurussland“ genannt. Auch architektonisch sollte Sewastopol altgriechisch anmuten, die neoklassizistische Bebauung setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert fort, die Stadt war von Anfang an eine Antikenattrappe. Die meisten echten Ruinen von Chersones wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts freigelegt.
Damit wären wir zu einer anderen Tradition gelangt, die in Neu-Chersones zum Vorschein kommt und ebenfalls aus Moskau stammt, nämlich von Juri Luschkow, Bürgermeister von 1992 bis 2010. Luschkow war eines der russischen politischen Schwergewichte, die sich nie damit abgefunden haben, dass die Krim nicht mehr zu Russland gehörte. Aber darum geht es hier nicht, sondern um eine Kulturrevolution, die Luschkow in Moskau vollzog, die dann auf ganz Russland übergriff und die Russland nun in die besetzten Gebiete der Ukraine bringt.
Im Jahr 2003 wurde in Moskau trotz massiver Proteste ein Jugendstilkaufhaus abgerissen, um an seiner Stelle ein modernes, optisch angeblich identisches Gebäude zu bauen. Was man beim Abriss noch nicht wusste, war, dass das neue Gebäude eher Parodie als Kopie des Originals sein würde. So wie der 1999 fertiggestellte Nachbau der Christ-Erlöser-Kathedrale anstelle des 1931 abgerissenen Originals, allerdings mit Tiefgarage, Sauna, Konferenzraum und üppiger, aber billig wirkender Dekoration. Das ist jetzt die wichtigste Kirche der russischen Orthodoxie.
Es waren Pilotprojekte für eine systematische, flächendeckende architektonische Fälschung. Im selben Jahr 2003 wollte Luschkow die Ausstellungshalle Manege auf dem gleichnamigen Platz neben dem Kreml modernisieren lassen. Das einzige Hindernis war der Denkmalschutz: Das Originalgebäude wurde 1817 vom spanischen Militäringenieur Agustín de Betancourt erbaut und 1824 von Joseph Bové, dem Architekten des Bolschoi-Theaters, umgestaltet.
Am 14. März 2004 brach dort ein Feuer aus, nach dem nur noch die Außenmauern standen. Alles deutete auf Brandstiftung hin, was Luschkow noch während des Brandes dementierte. Ein Jahr später wurde die Manege mit einer verdoppelten Ausstellungsfläche, einem Konferenzraum, Glaswänden und Rolltreppen wiedereröffnet. Das abgebrannte Dachtragwerk, Herzstück des Originals, wurde durch eine Nachbildung ersetzt.
2004 wurde der Abriss eines weiteren Architekturdenkmals am Manege-Platz beschlossen, des 1932 bis 1935 erbauten Hotels „Moskwa“, eines Prachtexemplars des sowjetischen Art déco. Nach neunjährigen Bauarbeiten wurde das Hotel durch ein äußerlich ähnliches Gebäude mit doppelter Innenfläche und Tiefgarage ersetzt. 2005 begannen die Bauarbeiten im Zarizyno-Park. Das ist eine andere, aber verwandte Geschichte, die zurück nach Chersones führt.
Zarizyno war ein einzigartiges Denkmal, ein weitläufiger Landschaftspark mit einem pseudogotischen Palastkomplex am Stadtrand von Moskau, den Katharina II. 1775 beim Hofarchitekten Wassili Baschenow in Auftrag gab; später stellte sie das halbfertige Projekt jedoch ein. Die malerischen Ruinen prägten den Park und inspirierten zahlreiche Kunstwerke und literarische Texte. Luschkow ließ die Paläste „zu Ende“ bauen und den Park „veredeln“. Herausgekommen ist eine wilde Mischung aus historischer Substanz und modernem Kitsch. Das Original ging völlig in der Fälschung auf. Die Grenzen zwischen authentisch und nachgemacht, damals und heute verschwanden. Wenn Russland jetzt ukrainische Städte, die es besetzen will, dem Erdboden gleichmacht, folgt es der gleichen Logik: Man kann sie ja wieder aufbauen, den eigenen Vorstellungen anpassen, es wird eh dasselbe, nur besser.
Multimediale Geschichtsshow
Den Anstoß für den Park in Chersones gab Putin, als er 2014 die annektierte Halbinsel besuchte, Konzept und Umsetzung stammen von seinem mutmaßlichen Beichtvater Tichon Schewkunow, damals Abt des Sretenski-Klosters in Moskau, seit 2023 Bischof der Krim. Schewkunow gilt als einer der einflussreichsten Geistlichen Russlands und einer der Architekten von Russlands reaktionärer Ideologie und Geschichtspolitik. Im Zentrum des Parks befindet sich eine Arena für 1300 Zuschauer mit drei Bühnen und mehreren Großbildschirmen.
Hier wird die Multimediashow „Der Greif“ aufgeführt, ein Werk Schewkunows, das seine (und damit die offizielle) Sicht auf die Geschichte der Krim darstellt: Nach dem goldenen Zeitalter von Byzanz folgen dunkle Jahrhunderte der Qual durch Mongolen, Litauer und andere Barbaren, bis schließlich Russland die Quelle der russischen Orthodoxie befreit und wiederbelebt. Die Show wurde von einem Moskauer Performancetheater produziert, das in der Szene eher als progressiv gilt, und ist eine Mischung aus Zirkus, Akrobatik, Kampfkunst und Spezialeffekten, ein ultraorthodoxer Cirque du Soleil.
Der Greif, ein Fabelwesen mit löwenähnlichem Körper und Adlerkopf, Wappentier der Krim und Christussymbol, wird von einer kinetischen Figur dargestellt, die von sechs Schauspielern geführt wird. Putin fand die Show toll und das Geschichtskonzept überzeugend.
Der Einsatz von Multimedia und anderen modernen Technologien zur Verbreitung erzreaktionärer Inhalte ist ein Markenzeichen Schewkunows. Im Jahr 2013 initiierte er eine bombastische Multimedia-Ausstellung über die Romanow-Dynastie anlässlich ihres 400-jährigen Jubiläums, die zu einem riesigen Publikumserfolg wurde. Es folgten weitere Ausstellungen und ein staatlich gefördertes Programm von Geschichtsparks, in denen Schewkunows Version der Geschichte Russlands multimedial und interaktiv dargestellt wird. Inzwischen gibt es 26 solcher Parks, darunter zwei in den besetzten ukrainischen Städten Luhansk und Melitopol. Die Museen in Neu-Chersones gehören formell nicht dazu, verfolgen aber dasselbe Konzept.
Zu Fall gebracht
Wenn Schewkunow Geschichte erzählt, bedient er sich gerne auch eines modernen Vokabulars. In seinem 2008 gedrehten Dokumentarfilm „Untergang eines Weltreichs. Byzantinische Lektion“ erzählt er vom barbarischen „kollektiven Westen“, der „nur von einer Sache träumte, zu erobern und zu plündern“, und nur durch die Plünderung von Byzanz reich und mächtig wurde.
Er flaniert durch Venedig, nennt es das New York des 13. Jahrhunderts und fabuliert über das internationale jüdische Finanzkapital, die europäische Integration und die subversiven „gesamteuropäischen Werte“, die Byzanz zu Fall gebracht hätten. „Das war erst vor sechshundert Jahren“, sagt Schewkunow. Man merkt, dass er in ganz anderen Zeitdimensionen denkt, für ihn ist alles Gegenwart. Und wenn er einen Kaiser dafür lobt, dass er hart gegen Oligarchen und Gouverneure durchgegriffen und dem „kollektiven Westen“ die Stirn geboten habe, dann meint er keinen spätmittelalterlichen Herrscher.
Die Botschaft, die unter Schewkunows Aufsicht und mit Putins Segen in Chersones in Stein gemeißelt wurde, scheint eindeutig: Das neue Rom hat seine Lektion gelernt und wird die Fehler seiner Vorgänger nicht wiederholen, diesmal ist Byzanz für immer. Kaum vorstellbar, was nach der Befreiung mit diesen Bauten geschehen soll. Noch schwieriger ist es, sich auszumalen, wie und worüber man mit einem messianischen Regime verhandeln soll, das sich in der Zeit der Kreuzzüge wähnt.