top of page

Sie wollen, dass wir Angst haben

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 3. Nov. 2023
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 27. Feb. 2024

Der „Spiegel“ schreibt, Juden in Deutschland fühlten sich nicht mehr sicher. Dabei hat das Blatt zur Ausbreitung von Antisemitismus beigetragen. Es ist die reine Heuchelei.

Veröffentlicht in: FAZ, 03.11.2023


Screenshot FAZ.net

Vier grell beleuchtete Gesichter zieren die Titelseite des Spiegels. In kleinen roten Buschstaben heißt es dort: „Judenhass in Deutschland“. Die große weiße Überschrift lautet: „Wir haben Angst“. Dabei leistete das Magazin mit seiner voreingenommenen „israelkritischen“ Berichterstattung jahrelang massiv Vorschub für den Antisemitismus in Deutschland. Im Archiv finden sich zahlreiche Publikationen, die typischerweise Titel wie „Palästinenser bei israelischen Angriffen getötet“ tragen, wenn es um vereitelte Anschläge oder Israels militärische Operationen gegen die Infrastruktur des Terrors geht, selbst wenn es keine zivilen Opfer gab. Das ist eine fest etablierte Täter-Opfer-Umkehr.


Selbst heute ist sich der Spiegel nicht zu schade, in diesem Kontext „Terrorinfrastruktur“ in Anführungszeichen zu setzen, als gäbe es irgendeinen Zweifel an deren Existenz. Wohngebiete, in denen Nachkommen der Geflüchteten von 1948 leben, werden routinemäßig und ohne weitere Erklärung „Flüchtlingslager“ genannt, die dann das israelische Militär erstürmt oder bombardiert. Zuletzt stand so etwas im Spiegel-Online am 01. November. Der Leser darf sich dann wohl provisorische Unterkünfte vorstellen, in denen sich jetzt die vor den israelischen Angriffen fliehenden Menschen aufhalten, und keine Stadtviertel, die oft auch Hochburgen eben jener Terrorinfrastruktur sind. Der "Spiegel"-Miteigentümer und langjährige Onlinekolumnist Jakob Augstein stand andauernd in der Kritik wegen seiner kaum verhüllten antisemitischen Rhetorik, 2012 setzte ihn das Simon Wiesenthal Center sogar auf seine jährliche Top-Ten-Liste der Antisemiten.


Der "Spiegel" war einer der Tongenber des deutschen medialen Standards. 2012 fabulierte Augstein, die Atommacht Israel sei eine Gefahr für den Weltfrieden. Heute teilt das Vorstandsmitglied von „Reporter ohne Grenzen“, Gemma Pörzgen, den "Spiegel"-Beitrag über die antisemitischen Ausschreitungen in Russland auf Facebook mit den Worten "Der israelische Rachefeldzug in Gaza hat weitere schrecklichen Folgen". Es sind immer die Juden selbst, die die Schuld am Pogrom tragen. Pörzgen ist schon früher mit problematischen Äußerungen aufgefallen, zum Beispiel 2017, als sie die Antisemitismus-Doku kommentierte, die die öffentlich-rechtlichen Sender nicht ausstrahlen wollten. In dieser Doku ging es genau um das Thema, welches heute so viele besorgt: Um den israelbezogenen Antisemitismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern und seine Verflechtung mit dem militanten, gewalttätigen Antisemitismus im Nahen Osten. Pörzgen verteidigte damals nicht die Journalisten, sondern die Zensur, und durfte sich unwidersprochen im Deutschlandfunk über den „legitimen Antizionismus“ ausbreiten, als wäre es das Normalste der Welt, den Juden selbst das Recht auf nationale Selbstbestimmung von Deutschland aus abzusprechen. Es hat hier Tradition, dass solche Episoden ohne Konsequenzen bleiben, Institutionen trennen sich von jemandem nur bei krassesten Entgleisungen und meistens nur unter erheblichem öffentlichem Druck.


Nun hat sich in Deutschland eine breite antisemitische Koalition aus relativierenden Medien, BDS-affinen Kulturschaffenden und Teilen der Linken, den klassischen rechten Judenhassern und der muslimischen Straße gebildet. Der systematisch kleingeredete israelbezogene Antisemitismus, auch unter den Muslimen, ist nun zu einer spürbaren Bedrohung nicht nur für alle Juden, sondern auch für den gesellschaftlichen Frieden geworden. Der Staat ist mit dieser Lage offensichtlich überfordert. Die Verantwortlichen für die öffentliche Ordnung verbieten propalästinensische Demonstrationen aus Angst, dass sie offen antisemitisch werden können, und falls die Polizei dann interveniert, zum unkontrollierbaren Krawall. Diese Angst wird nun – wie nicht anders zu erwarten – auf die Juden abgewälzt.


Der Spiegel macht mit seinem Cover die – völlig nachvollziehbare - Angst Einzelner zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen, denn dieser Titel ist keine Tatsachenfeststellung, sondern Panikmache, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Von fast jedem deutschen Zeitungsstand aus ermutigt er die Täter und entmutigt die Juden, indem er suggeriert, sie seien der Gefahr schutzlos ausgeliefert. Doch sich einer Gefahr bewusst zu sein und die Hasser zu verachten, heißt nicht automatisch, Angst zu haben. Einer der Abgebildeten ist der 90-jährige Ivar Buterfas-Frankenthal, ein Schoa-Überlebender, der sich seit über dreißig Jahren gegen Fremdenhass und Antisemitismus engagiert. Dafür hat er schon viele Auszeichnungen, aber auch viele Morddrohungen erhalten. Zwei Dutzend seien es gewesen, berichtet der Spiegel, weshalb sein Haus im niedersächsischen Bendestorf einer Festung gleiche. Dennoch lässt sich Ivar Buterfas-Frankenthal nicht einschüchtern und gibt sein Engagement nicht auf. Er ist ein Bilderbuchbeispiel eines furchtlosen Menschen. Ausgerechnet mit seinem Gesicht die jüdische Angst zu illustrieren, grenzt an Zynismus.


Es ist schwer, den Spiegel-Titel anders zu verstehen: Sie wollen, dass wir Juden Angst haben. Sie brauchen verängstigte Juden, die man großzügig rhetorisch in Schutz nehmen kann, um sie dann auch noch mit gutem Gewissen zu bevormunden. Sie brauchen ohnmächtig vor Wut zappelnde Juden, auf die man mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel herabblicken und sie dabei in guten Manieren unterweisen kann. Was sie nicht ertragen können, sind selbstbewusste und erst recht wehrhafte Juden, die ihren Peinigern richtig weh tun können, die aber auch hässlich und ungerecht werden können. Dann machen sie daraus gern wieder ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und können entspannt ausatmen: "Das haben wir doch schon immer gesagt".


Niemand, den ich kenne, hat Angst. Aber die meisten glauben zurecht, dass wir uns auf Deutschland nicht verlassen können.


bottom of page