Und wo bleibt euer Widerstand?
- Nikolai Klimeniouk
- 22. März
- 5 Min. Lesezeit
Verblüffend schnell entwickeln sich die USA unter Donald Trump in eine Richtung, an deren Ende Russland schon lange angekommen ist.
Veröffentlicht in: NZZ, 22.03.2025

Die Russen seien eine Ausnahme unter den Völkern, schrieb 1828 der russische Philosoph Pjotr Tschaadajew. Sie existierten nur, um der Welt eine große Mahnung zu sein. Der russischen Gesellschaft attestierte er Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Böse, gegenüber aller Wahrheit und aller Falschheit. Zugleich zeichne sie sich durch leichtsinnigen Wagemut und die erstaunliche Fähigkeit aus, alle Widrigkeiten des Lebens mit Leichtigkeit zu ertragen. Dies, so vermutete Tschaadajew, liege daran, dass in der russischen Gesellschaft die Gedanken von Pflicht, Gerechtigkeit, Recht und Ordnung fehlten, die er allesamt als dem Westen eigen ansah.
Zweihundert Jahre später wirkt diese Analyse angesichts der politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten verblüffend aktuell, spielen sich doch dort in Turbogeschwindigkeit Prozesse ab, die in Russland drei Jahrzehnte oder noch viel länger gedauert haben. Die russische Geschichte ist ein Lehrstück darüber, was mit Staat und Gesellschaft geschieht, wenn sie sich von den humanistischen Grundlagen der Demokratie verabschieden. Oder sich diese erst gar nicht aneignen wollen, auch weil der maßlos idealisierte Westen die Russen permanent enttäuscht und in ihrem patriotischen Stolz bestätigt.
Die Parallelen zu Russland sind so offensichtlich, dass sich regimekritische russische Intellektuelle gerade vor Schadenfreude überschlagen. „Die Westler haben uns Russen so gerne gesagt, dass wir auf die Straße gehen und protestieren sollen, dass es unsere sklavische Natur sei, die uns daran hindere, Putin zu stürzen - und nun?“, spottet auf Facebook der Publizist Nikolay Epplée und erhält viel Zuspruch aus den Reihen des liberalen Kommentariats. Da macht die Trump-Administration so viele Errungenschaften im Bereich der Bürgerrechte rückgängig, geht gegen Meinungs- und Wissenschafts- und Unternehmensfreiheit vor, säubert den Staatsapparat, und droht Nachbarländern mit militärischer Gewalt - und wo bleibt der Widerstand? Das Argument der Amerikaner, sie würden erst auf die Straße gehen, wenn die rechtsstaatlichen Mittel ausgeschöpft seien, wird mit Häme abgeschmettert. Auch wenn sie den Spott nicht verdienen, erinnert die Reaktion der Amerikaner an das Scheitern der russischen Demokratiebewegung, die jede Mitverantwortung für die Etablierung der Tyrannei von sich weist.
Besonders heikel ist das Thema der Kriegsunterstützung. Allein schon der Gedanke, die Gesellschaft trage Mitverantwortung für den Krieg, wird als faschistische Unterstellung von Kollektivschuld abgetan. Doch gerade in der Haltung zum Krieg wird das Verhältnis von Gewaltherrschaft und Gesellschaft sehr deutlich. Alle Meinungsumfragen, ob staatlich oder privat, zeigen, dass rund 70 Prozent der Russen den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen würden. Der Anteil der Falken liegt bei etwa 15 Prozent. Diese Zahlen sind in liberalen Kreisen heftig umstritten. Die Kritik reicht von der Behauptung, es sei generell unmöglich, die öffentliche Meinung in einer Diktatur zu messen, bis hin zu der These, nur die Falken seien die wahren Kriegsbefürworter, während die Mehrheit „nur“ opportunistisch und zudem vom repressiven Regime eingeschüchtert sei. Das Bild vom passiven Volk als Opfer unterscheidet sich kaum vom paternalistischen Gehabe der Macht und der verbreiteten Attitüde „Wir sind nur kleine Leute und können nichts ändern“. Die Tatsache, dass sich stets etwa die Hälfte der Befragten für Friedensverhandlungen ausspricht, wird als Beleg für die Ablehnung des Krieges interpretiert, obwohl die Frage, ob Russland den Krieg beenden und sich aus der Ukraine zurückziehen solle, gar nicht gestellt wird. Man muss in Russland für den Krieg sein, darf ihn aber nicht so nennen. Auch dazu finden sich jetzt Parallelen in den Vereinigten Staaten, wo die Trump-Administration gegen Statistik-Dienste vorgeht und immer neue Begriffe für unerwünscht erklärt.
Ob Krieg oder Spezialoperation, die Mehrheit der russischen Bevölkerung sieht Russland ohnehin als Sieger, sie interessiert sich bloß nicht für die Kriegsziele, wie auch immer sie der Kreml definiert. Dabei war die Einstellung zum Krieg in Russland schon einmal eine andere. Der erste Tschetschenienkrieg unter Boris Jelzin wurde noch stark kritisiert und von Protesten begleitet. Damals fand die russische Führung die Zauberformel, die Putin perfektioniert hat und die heute international erfolgreich kopiert wird: Jede noch so brisante Enthüllung ignorieren, jeden Vorwurf mit einer Lüge kontern und die Verantwortlichen gewähren lassen. Und dann sogar noch Wahlen gewinnen. Ein Schelm, wer dabei an Donald Trump denkt.
Mit jedem neuen russischen Krieg wurden die Gegenstimmen leiser und die Unterstützung für die Aggression größer. Die Annexion der Krim 2014 löste in Russland chauvinistische Begeisterung aus, die Opposition zog weitgehend mit. Wichtige Figuren wie Alexej Nawalny oder Michail Chodorkowski erklärten die „Krim-Frage“ für zweitrangig. Dennoch war die Ablehnung der Annexion für viele ein wichtiges Erkennungszeichen der Gleichgesinnten. Dies war wahrscheinlich einer der Gründe, warum so viele Ukrainer glaubten, dass die Vollinvasion im Februar 2022 große Proteste auslösen würde. Proteste gab es in der Tat, aber es waren Tausende, nicht Millionen, die gegen den Krieg auf die Straße gingen, und so war es für das Regime ein Leichtes, diesen schwachen Widerstand mit drakonischer Härte zu ersticken.
Man wird an diese russische Lektion erinnert, wenn Donald Trump immer wieder ankündigt, Kanada und Grönland annektieren zu wollen, und der große Aufschrei ausbleibt. Die New York Times ging sogar so weit, in einem Artikel die wahlpolitischen Nachteile einer Annexion Kanadas für die Republikanische Partei zu erörtern – anstatt sich die Frage zu stellen, ob in den USA, die Kanada angreifen, freie Wahlen überhaupt möglich wären. Damit schlug sie den Weg ein, der die unabhängigen russischen Medien auf Linie brachte, lange bevor die harte Zensur zuschlug. Das ist der Weg der kritischen Affirmation: Die wahnwitzigsten und rechtswidrigsten Unternehmungen der Macht so zu interpretieren, als seien die Absichten dahinter legitim und dienten irgendeinem, vielleicht nur falsch verstandenen nationalen Interesse. So wird die Willkür nach und nach normalisiert, bis selbst der Angriffskrieg gegen einen friedlichen Nachbarstaat nicht mehr als ein unverzeihliches, zum Himmel schreiendes Verbrechen, sondern allenfalls noch als politische Fehlentscheidung erscheint. Und die Gesellschaft ist schon so zermürbt von den Problemen, die die Regierung im eigenen Land verursacht, dass sie nur noch müde zuschaut. Ihr Empörungspotential ist bereits erschöpft, der Protest hat sich auf kleinere Themen verengt: Grundfreiheiten, Minderheitsrechte, soziale Sicherheit, Renten, Abtreibungen, Umweltschutz. Es gibt plötzlich so viel, wofür man kämpfen muss, und dabei so wenig erreichen kann, dass man seine Energie lieber darauf fokussiert, wo man unmittelbar helfen und so das Gefühl der Ohnmacht überwinden kann: Hier sammelt man Geld für kranke Kinder, da für Alte, Veteranen oder Obdachlose. Und wieder erscheint die jüngste russische Vergangenheit wie ein Modell für die nahe amerikanische (und vielleicht auch europäische) Zukunft.
Und noch eine Lektion, die Russland gerade der Welt erteilt: Die Verarmung großer Teile der Gesellschaft ist für die Regierung kein Problem, sondern eine Ressource. Seit Mitte der Nullerjahre wurde in Russland davor gewarnt, dass die Last der Verbraucherkredite und Hypotheken Millionen in den Bankrott treiben und den Staat destabilisieren werde. Der Krieg hat diese Krise auf einmal gelöst. Es erwies sich als viel leichter (und letztlich auch billiger), eine Söldnerarmee aus prekären und überschuldeten Menschen zu rekrutieren, als im großen Stil zu mobilisieren. Selbst die hohen Verluste führen nicht zu Unruhen. Familien werden durch Gefallenenprämien ruhig gestellt, und während in entlegenen Regionen ganze Landstriche entvölkert und nichteuropäische Minderheiten an der Front verheizt werden, geht das Leben in den Großstädten weiter, als wäre nichts geschehen. Nur dass man statt VW und Renault nun chinesische Neuwagen kauft und in die meisten europäischen Länder nicht mehr direkt fliegen kann, sondern über Belgrad oder Istanbul. Schon Tschaadajew schrieb, die Russen seien anpassungsfähig.
Die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist unerfreulich, aber kein Grund für einen jubelnden Whataboutism, wie ihn gerade viele russische Regimekritiker betreiben. Sie selbst sind ein warnendes Beispiel dafür, wie bedeutungslos Diktaturgegner werden, wenn sie auf Gesellschaftskritik verzichten und sich mit Protesten zurückhalten. Die russische Gesellschaft hat sich in ihrer langen Geschichte dadurch ausgezeichnet, dass sie immer wieder tyrannische Herrschaftsformen hervorgebracht und anderen Völkern aufgezwungen hat. Vielleicht kann sie auch nicht anders. Aber sie ist natürlich nicht so einzigartig, dass nur sie auf diese Weise scheitern kann.