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Untergrundklassik

  • Autorenbild: Nikolai Klimeniouk
    Nikolai Klimeniouk
  • 28. Jan. 2018
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Dez. 2024

In einem alten Berliner Busdepot entdeckt der rumänisch-israelische Pianist Michael Abramovich den polnisch-französischen Komponisten Frédéric Chopin. Das klingt unerhört neu.

Veröffentlicht in FAS, 28.01.2018


Pianist Michael Abramovich im Pianosalon Christophori
Screenshot FAZ.net

Fünfzehn Flügel stehen auf einem aus rohen Brettern gezimmerten Podest, einer oder zwei davon mit aufgeklappten Deckeln. Zahllose einzelne Flügelteile – Lyren, Pulte, Rahmen – hängen an den Wänden und stehen im Raum herum. Man könnte denken, man habe sich in einen Trödelladen verirrt. Ein großer Schrank mit Schallplatten in der Ecke, Stehlampen mit gemütlichen gelblichen Stoffschirmen, große Messingkronleuchter, Schwarzweißfotos von Musikern, nicht immer museumstaugliche Gemälde, und sogar der Panzer einer Riesenschildkröte: Vielleicht weil der Händlergott Hermes der Sage nach aus einem solchen Panzer die erste Kithara baute, vielleicht einfach nur so.


Die Halle ist ein Teil des ehemaligen Busdepots der Berliner Verkehrsbetriebe in der Weddinger Uferstraße, jetzt finden hier etwa fünf Mal die Woche Konzerte statt, Klavier und Kammermusik, manchmal Jazz. Das ist „Pianosalon Christophori“, Berlins alternative Philharmonie.


„Christophori“ ist flexibel

Der Pianist Michael Abramovich ist eine Institution innerhalb dieser Institution. Seit drei Jahren spielt er dort das Gesamtœuvre von Frédéric Chopin für Soloklavier in chronologischer Reihenfolge, es ist jetzt schon die zweite Runde. Man weiß im voraus nie, welches Instrument Abramovich wählt, einen modernen Bösendorfer, einen etwa hundert Jahre alten englischen Flügel aus dem Hause Challen oder einen historischen Érard, das Standardinstrument der großen Musiker des 19. Jahrhunderts, auch Chopins. Die Konzerte sind so schnell ausverkauft, dass Michael Abramovich zwei oder drei Abende hintereinander gibt. Das geht, „Christophori“ ist flexibel.


Abramovich, 47, wurde in Rumänien in eine Musikerfamilie geboren, er wanderte mit 13 Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern nach Israel aus, studierte Klavier in Jerusalem und in New York. Seit über zwanzig Jahren lebt er nun in Berlin. Er hat die zart-zähe Figur eines Zirkusakrobaten; mit federnden Schritten kommt er auf die Bühne, stellt sich vor die Instrumente und erklärt, tanzend und singend, die Werke auf dem Programm, und das ist mehr als angebracht: Ein großer Teil von Chopins Werken sind nämlich Tänze.


Verfremdung als zentrales Prinzip

Ein nicht weniger wichtiger Bestandteil, erzählt Abramovich, sei Chopins Auseinandersetzung mit der Oper, die sein gesamtes Œuvre durchziehe. Schwer zu sagen, wie viele Menschen im Publikum ohne diese Erklärungen auf Anhieb Zitate etwa aus Bellini in Chopin-Werken, oder wiederum Zitate von Chopin in Wagners „Tristan und Isolde“ erkennen würden. Mit Abramovich scheint es leicht, offensichtlich, selbstverständlich.

Im Jahre 1916 schrieb der russische Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker Wiktor Schklowski seinen einflussreichen Aufsatz „Die Kunst als Verfahren“, in dem er die Verfremdung zum zentralen Prinzip der Kunst erhob: „Die Automatisierung frisst die Dinge auf, die Kleider, die Möbel, die Ehefrau und die Angst vor dem Krieg. (...) Und gerade um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen.“


Die Verkitschung begann schon zu seinen Lebzeiten

Die Wiederbelebung Chopins ist eine besonders anspruchsvolle Aufgabe: Sein Œuvre ist überschaubar, voller Ohrwürmer und buchstäblich unter Bergen romantischer oder einfach nur kitschiger Interpretationen begraben. Man kennt seine Melodien aus Popsongs, schlimmer kann es nicht gehen. Chopins Verkitschung begann schon zu seinen Lebzeiten: Seine Mazurken und Polonaisen wurden als Tanzmusik gespielt, entstellt, vereinfacht, verkrüppelt und unzählige Male wiederholt.


Chopin, erzählt Abramovich, habe Wiederholungen verabscheut. „Ich interessiere mich überhaupt nicht für sein inneres Labor, seine Gefühle und seine Neurosen. Viel spannender ist für mich seine Dramaturgie, wie er sich präsentiert, wie er seine Narrative aufbaut, um sich nicht zu wiederholen. Chopin war einer der wichtigsten Intellektuellen in der Musikgeschichte. Er hat sich sehr intensiv mit den Werken anderer Musiker befasst, er war sehr innovativ. Die Reihenfolge, in der er seine Werke veröffentlichte, zeigt, wie sich seine Gedanken entwickelten, quer durch alle Formen und Gattungen. Sie gibt Chopin Stabilität, zeigt sein Werk wie eine Einheit.“ Indem Abramovich Chopins Werke chronologisch spielt, folgt er lediglich dessen Anweisungen. Wenn man aber alle Mazurken oder alle Nocturnes kombiniert, so wie es heute üblich ist, macht man aus der Sicht von Abramovich genau das, was Chopin unbedingt vermeiden wollte.


Wenn sich Chopin auf Bach oder Beethoven bezieht, spielt ihn Abramovich wie Bach oder Beethoven; wenn sich seine Erfindungen bei Debussy, Brahms oder Skrjabin wiederfinden, dann lässt Abramovich Chopin wie seine Nachfahren klingen. Die frühen Werke spielt Abramovich mit betonter Virtuosität, er zeigt Chopins jugendliche Begeisterung über seine herausragenden Fähigkeiten, sein nahezu unbegrenztes Können. Je reifer Chopin wird, desto mehr tritt die Virtuosität in den Hintergrund, wird zum Mittel, zur Voraussetzung. Abramovich liest jedes Stück Chopins wie einen Vortrag über Musik, er spielt schnell, zuweilen atemberaubend schnell, aber stets sehr präzise, ohne den Gedanken in der Klanglawine zu ersaufen: Die Kernaussage muss immer hörbar bleiben.


Das ist Chopin, wie wir ihn kaum kennen, ein Künstler voller Selbstironie und gelehrtem Humor. Abramovich geht mit Chopin sehr souverän, fast radikal um, doch trotz vieler Freiheiten, die er sich erlaubt, bewahrt er immer respektvolle Distanz, macht Kommentare, keine Koproduktion. Am Klavier wirkt er, als lese er in einem Buch, auch wenn er meistens aus dem Gedächtnis spielt: Immer konzentriert, manchmal erheitert, manchmal angestrengt. Chopin, so wie Abramovich ihn spielt, kann man unmöglich wiedererkennen, nur neu entdecken. Das verlangt Mitarbeit von allen Anwesenden, einfach nur dasitzen, schönen Klängen lauschen und sich am bekannten Stoff ergötzen, geht nicht. Im Publikum herrscht Stille, sie hält noch einige Sekunden nach dem Abklingen der letzten Takte, eine empfundene Ewigkeit, dann explodiert der tosende Applaus.


Der „Pianosalon Christophori“ biete Platz für 199 Besucher, so viel erlaube das Berliner Versammlungsrecht ohne zusätzliche Auflagen, erzählt der Gründer und Betreiber Christoph Schreiber, Neurologe an der Unfallklinik Marzahn. Geboren in eine Ärztefamilie, im Berliner Umland aufgewachsen, habe er sich nach dem Abitur überlegt, Musik zu studieren. Dagegen habe seine Sportbegeisterung gesprochen: Er wollte nicht den Rest des Lebens seine Hände schonen. Stattdessen habe er sich für etwas Unanstrengendes entschieden, sagt Schreiber, für die Medizin.


Teil der Berliner Kulturlandschaft

Beeinflusst von Michel Foucault habe er sich zunächst der Psychiatrie gewidmet: „Ich habe aber schnell gemerkt, was sie im Gegensatz zu allen anderen Fächern in der Medizin nicht hat, etwas Manuelles. Das hat mir gefehlt, so bin ich in der Neurologie gelandet. Und dann habe ich angefangen, mich zurückzubesinnen, und habe mir einen Flügel gekauft, einen J.-L.-Duysen-Flügel von 1901, und ein paar Lehrbücher dazu.“ So restaurierte Schreiber seinen ersten Flügel und tauchte zuerst in die Berliner, dann in die internationale Klavierszene ein.


Christoph Schreibers erste Klavierwerkstatt befand sich in Prenzlauer Berg. Dort fanden auch Konzerte statt, der Raum war groß genug für 20 bis 30 Leute. Nach sechzehn Jahren und einigen Umzügen ist der „Pianosalon Christophori“ fest in der Berliner Kulturlandschaft etabliert. Im E-Mail-Verteiler, sagt Schreiber, seien knapp 20000 Adressen: Menschen, die regelmäßig oder gelegentlich zu Konzerten kommen. Es gibt keinen Vorverkauf, man reserviert Sitzplätze über die Website und bezahlt am Ausgang, 15 bis 20 Euro inklusive Getränk.


Spontan, locker und unmittelbar

Die wichtigste Erfahrung, die man bei „Christophori“ macht, ist die: Klassische Musik ist eine lebendige, moderne Kunst, die man unmittelbar, aus nächster Nähe, mit einem Glas billigen Weins in der Hand erleben kann, spontan und locker, nicht in den heiligen Hallen der Philharmonie und ohne ein kleines Vermögen für die Karten ein halbes Jahr im Voraus ausgegeben zu haben. International gefeierte wie auch weniger bekannte, aber nicht minder interessante Musiker gehen hier Risiken ein, die sie sich anderswo nicht erlauben würden, und sie kommen hierher wegen dieser Freiheit und der Nähe zum Publikum, die man im traditionellen Musikbetrieb nur selten hat.


Manchmal macht man bei „Christophori“ Präsentationen von neuen CDs, es geht aber auch umgekehrt: Das Label „Berlin Classics“ regte Michael Abramovich nach seiner Konzertreihe an, Chopins Gesamtwerk für Soloklavier aufzunehmen. Daher die zweite Runde, die Konzerte laufen parallel zu Studiositzungen.


Es gibt ein Leben außerhalb der Philharmonie

Das Studio, in dem Abramovich aufnimmt, gehört wie „Christophori“ zum klassischen Paralleluniversum. Es befindet sich am Rand eines unspektakulären Dorfes in Burgund, abseits größerer Städte. Es ist ein Teil des Klavierateliers von Stephen Paulello, einem der Stars der internationalen Szene von Klavierenthusiasten. Es gibt ein Leben außerhalb der Philharmonie, es gibt auch Konzertflügel außer Steinway, Yamaha und Bösendorfer. Paulello war einst Deutschlehrer, dann unterrichtete er drei Jahrzehnte lang am Conservatoire de Paris, bis er schließlich aufs Land zog, um sich ganz dem Klavierbau zu widmen.


Sein berühmtestes Fabrikat, der drei Meter lange Flügel Opus 102, auf dem Abramovich Chopin einspielt, hat parallele Besaitung (die seit den 1880er Jahren nicht mehr verwendet wird), 102 statt der üblichen 88 Tasten und klingt wie kein anderes Instrument der Welt. Dank seiner ungewöhnlichen Bauart, die Hightech-Materialien mit historischen Elementen verbindet, hat es zugleich die Wucht und Klangfülle eines modernen Konzertflügels und die schlichte Klarheit eines historischen Hammerklaviers. Dieses Instrument, sagt Abramovich, fasziniere ihn mit seinen Möglichkeiten, seiner Dynamik, mit der Breite seines Timbres: „Es ist so, als ob du ein ganzes Orchester zu deiner Disposition hast. Es kann dich aber zum Verzweifeln bringen, manchmal weißt du nicht, ob du diesen Flügel beherrschst oder er dich.“


Abramovichs Gesamtaufnahme mit einem durchgehenden Konzept und dazu noch auf einem so eigenwilligen Instrument ist ein gewagtes und eigentlich präzedenzloses Unterfangen. Wenn die Faszination über die Verzweiflung siegt, wird diese Aufnahme ein Meilenstein in der Chopin-Rezeption werden. Noch ist es nicht so weit, dafür kann man jetzt schon diesen vollkommen unbekannten Komponisten Frédéric Chopin mit Michael Abramovich im Berliner Untergrund kennenlernen.

 
 
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