Warten auf den russischen Angriff
- Nikolai Klimeniouk
- 2. Okt. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Nachdem Putin die Mobilisierung ausgerufen hat, startete Estland Übungen für Reservisten. Ist man in Tallinn, merkt man sofort: Es ist mehr als nur Solidarität mit der Ukraine, es ist Verbundenheit.
Veröffentlicht in FAS, 02.10.2022

Die estnische Hauptstadt Tallinn liegt mehr als 1500 Kilometer von den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine entfernt, aber die Front fühlt sich nah an. Kampfjets fliegen tief über den Flughafen. Militärische Fahrzeuge sind unterwegs. Nachdem Putin die Mobilisierung ausgerufen hat, startete Estland Übungen für Reservisten. Ukrainische Flaggen sind überall: an Hausfassaden, in Schaufenstern, gleich am Flugfeld an einem Mast, wo früher die EU-Fahne wehte. Man merkt sofort: Es ist mehr als nur Solidarität, es ist Verbundenheit.
Die Grenze zwischen Estland und Russland ist 336 Kilometer lang, ihr Verlauf ist aber nicht genau festgelegt. Russland will den Friedensvertrag von Tartu nicht anerkennen, der im Jahr 1920 den Unabhängigkeitskrieg Estlands gegen Sowjetrussland beendete und mit ihm die zweihundertjährige Herrschaft Russlands über das baltische Land. Man möchte automatisch „das kleine baltische Land“ schreiben, dabei ist Estland größer als die Niederlande. Die Unabhängigkeit dauerte nicht lange. 1939 teilten Hitler und Stalin Mitteleuropa untereinander auf (diese Abmachung kennt man als den Molotow-Ribbentrop-Pakt), die Sowjetunion annektierte Estland im Jahr darauf.
Die Esten selbst sprechen gern von ihrem „kleinen Land“, schließlich leben dort nur 1,3 Millionen Menschen. Knapp ein Viertel davon sind Russen; etwa ein Drittel von ihnen, so die Umfragen, glauben mehr der russischen Propaganda als estnischen Medien. Seit Beginn der russischen Invasion haben knapp 300.000 Bürger Russlands die estnische Grenze überquert – kein Wunder, dass estnische Behörden darin ein großes Sicherheitsrisiko sehen. Und nicht nur Behörden.
Ich kam nach Estland auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung zu einem Seminar über russische Desinformationen und Geschichtsmanipulationen, das sie zusammen mit dem Thinktank ICDS (International Centre for Defence and Security) veranstaltete. Unter den Teilnehmenden waren viele Experten aus dem Baltikum und Polen, und alle schienen sich einig: Die Gefahr für ihre Länder ist akut; Zehntausende Russen, die vor der Mobilisierung fliehen – deutlich mehr, als gegen den Krieg protestierten – sind ein Teil dieser Bedrohung.
Der polnische Historiker und Journalist Jarosław Kuisz brachte es auf den Punkt. Es bilde sich gerade ein neuer Bund, den er post-Molotow-Ribbentrop-Allianz nannte, zu der neben den drei baltischen Ländern und der Ukraine auch Finnland und Polen gehören. Dort, schrieb Kuisz bereits im März in der „New York Times“, werde der gegenwärtige Krieg nicht als Ereignis wahrgenommen, sondern als Prozess, der schon vor langer Zeit begann und nicht mit der Einstellung der Kämpfe enden würde. Ein Teil davon seien bereits die russischen Überfälle auf Tschetschenien und Georgien gewesen. Der Westen denke, er müsse den 3. Weltkrieg verhindern, für Mitteleuropa sei der Krieg längst voll im Gange und man selbst als nächstes Ziel dran.
So saßen wir in unserem Hotel an der Ostseeküste und warteten auf einen Blackout. Russland hat eine „Übungsabschaltung“ seiner Exklave Kaliningrad vom gemeinsamen Stromnetz angekündigt, die zu einem kompletten Stromausfall im Baltikum führen könnte. Diesmal ist nichts passiert, doch die Gefahr schien real. 2007 wurde Estland, schon damals eines der meistdigitalisierten Länder der Welt, Opfer einer Cyber-Attacke, die es für mehrere Wochen lahmlegte – nachdem die bronzene Figur des sowjetischen Soldaten aus dem Stadtzentrum von Tallinn auf ein Militärfriedhof verlegt worden war. Seitdem sind in Estland die meisten sichtbaren Erinnerungen an die Sowjetunion verschwunden, jüngst wurde aus der Grenzstadt Narva der sowjetische T-34 Panzer entfernt – woraufhin Russland den gleichen Panzer auf seiner Seite aufstellte.
Etliche sowjetische Denkmäler landeten im Hof des Geschichtsmuseums in Tallinn, da findet man neben der Stalinfigur die kopflose Statue des angeblich von den Nazis bestialisch ermordeten russischen Matrosen Ewgenij Nikonow, dessen Namen in Estland und Russland Straßen und Schulen trugen. Irgendwann, so wird es in Estland erzählt, wollten die Pioniere aus einer dieser Schulen die Verwandten des Helden in seinem Heimatdorf besuchen – und fanden dort ihn selbst, nichtsahnend von seinem Martyrium. Ähnliches geschah mit vielen sowjetischen Kriegsmythen. Dennoch gedachte die russische Botschaft vor zwei Jahren Nikonows Heldentod, machte aber nicht mehr die Nazis dafür verantwortlich, sondern estnische Kollaborateure.
Heute sieht die Botschaft in der Altstadt von Tallinn verwahrlost aus. Auf der Absperrung hängen Solidaritätsposter für die Ukraine und böse Karikaturen über Russland. Sie greifen auch die weiß-blau-weiße, vom blutigen Rot der offiziellen Trikolore befreite Flagge der russischen Antikriegsbewegung an. Zum Beispiel so: Das Rot ist über die ganze Fläche verschmiert, der englische Text lautet: „Ihr werdet unser Blut nie wegwaschen können“. Damit kann ukrainisches, estnisches, tschetschenisches oder georgisches Blut gemeint sein. Von Tallinn aus gesehen, wird Russland, solange es existiert, immer eine Gefahr sein, mit oder ohne Putin.