Warum muss sich für den Krieg ewig die Ukraine rechtfertigen?
- Nikolai Klimeniouk
- 16. Feb. 2023
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Aug. 2024
Bei allen Bekenntnissen zur Solidarität mit der Ukraine fällt es einem Teil der deutschsprachigen Öffentlichkeit schwer, den Krieg unter dem Gesichtspunkt von Freiheit und Gerechtigkeit zu betrachten. Kann es daran liegen, dass man nie einen Verteidigungskrieg gekämpft hat? Veröffentlicht in: NZZ, 16.02.2023

Der ukrainische Präsident Selenski telefoniert mit einem Ausserirdischen. «Wir brauchen Ufos», sagt Selenski. «Kein Problem», antwortet der Alien, «wenn Deutschland dafür bezahlt . . .» Die sozialen Netzwerke sind voll mit Bildern wie diesem, sie lauern da, wo man sie gar nicht erwartet, es gibt kein Entkommen.
Es hilft auch nicht, gar keine sozialen Netzwerke zu nutzen. Eine Berliner Freundin lässt ihre Wohnung renovieren, der Handwerker entscheidet, dass ihr Name russisch klingt, und gibt im breiten Berlinerisch sein Bestes: Putin sei toll, der Kriegstreiber Selenski gierig, undankbar und «unser» aller Unglück. Aber vielleicht hat der Malermeister einfach zu viele Talkshows geschaut oder zu viel Zeitung gelesen.
Zum Beispiel die «Berliner Zeitung», die kürzlich ein ausführliches Interview mit dem einstigen Pink-Floyd-Bassisten Roger Waters brachte. Darin wiederholte der 79-jährige Musiker fast sämtliche russischen Propagandalügen, von der Ukraine als russischem Randgebiet bis zum drohenden Genozid an den Russen durch die allgegenwärtigen ukrainischen Nazis. Joe Biden sei ein viel grösserer Gangster als Putin, fabulierte Waters. Putin regiere besonnen, die Amerikaner machten ihn aber zum Schurken, um die Armen dieser Welt besser ausrauben zu können und ihr Gas teuer nach Europa zu verkaufen, der wichtigste Grund für Waffenlieferungen an die Ukraine sei der Profit für die Rüstungsindustrie.
Das Interview hatte Folgen: Wenige Tage nach seinem Erscheinen durfte Waters auf Einladung Russlands vor dem Uno-Sicherheitsrat sprechen. Auch Lokalzeitungen können offenbar einiges in der Welt bewegen.
«Manifest für den Frieden»
Wieso verbreitet aber eine traditionsreiche deutsche Zeitung diesen Fieberwahn? Schliesslich ist es in den grossen deutschen Medien nicht üblich, Reichsbürgern oder QAnon-Anhängern eine Bühne zu bieten. Doch wenn es um Russland und die Ukraine geht, ist es anders.
Ein wenig hat es mit der Person des Herausgebers der «Berliner Zeitung», Holger Friedrich, zu tun, eines IT-Unternehmers mit Stasi-Vergangenheit, der schon früher viel Verständnis für Putin zeigte. Allerdings befindet sich Friedrich in Deutschland in bester Gesellschaft. Neben etlichen Dauergästen der Talkshows und Zeitungsautoren wie Johannes Varwick, Erich Vad oder Margot Kässmann gehört er zu den Erstunterzeichnern des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer verfassten «Manifests für den Frieden».
Es ist der jüngste von zahlreichen Appellen an den deutschen Bundeskanzler, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Das Dokument enthält eine halbherzige Pflichtfloskel der Solidarität «mit der Bevölkerung der Ukraine», aber sonst spricht es vor allem von der eigenen Angst und macht dafür unmissverständlich die Ukraine verantwortlich. «Präsident Selenski macht aus seinem Ziel kein Geheimnis», heisst es im Manifest, er wolle noch mehr Waffen, um Russland auf ganzer Linie zu besiegen. «Ein ukrainischer Angriff auf die Krim» könne einen Weltkrieg auslösen.
Es klingt beinahe so, als hätte die Ukraine ihr Nachbarland überfallen und als wäre es nicht Russland mit seinem Diktator, sondern der «kriegsgeile» Selenski, der die Welt bedroht. Auf der Plattform Change.org sammelte das Manifest innerhalb von nur vier Tagen über 400 000 Unterschriften, das Spendenziel von 25 000 Euro für die Protestdemo am 25. Februar wurde deutlich übertroffen.
Das Dokument bekommt auch viel Gegenwind, doch seine Wortwahl ist nicht untypisch für den deutschen Ukraine-Diskurs. Das Wort «Bevölkerung» suggeriert, dass es wahrscheinlich doch kein eigenständiges ukrainisches Volk gibt, wie es zum Beispiel der Altkanzler Schmidt 2014 behauptete, oder dass russischsprachige Ukrainer nicht dazugehören. Diese Vorstellung ist so hartnäckig, dass im Manifest sogar das «traumatisierte Volk» in einem Atemzug mit den russischen Opferzahlen genannt wird.
«Der Angriff» auf die Krim ist nur einen Tick heftiger als die sonst üblichen Formulierungen «Rückeroberung» oder «Geländegewinn», mal ist vom ukrainischen Geländegewinn die Rede, mal vom russischen, als ginge es um ein Spiel, und Territorien wären der Preis. Da klingt auch die Idee nicht ganz verkehrt, die Ukrainer sollten doch nicht so kleinlich sein und auf ein bisschen Gelände verzichten.
Befreiung – kein Thema
Das Wort «Befreiung», das kaum je benutzt wird, liesse dagegen nicht so leicht vergessen, dass es den Ukrainern nicht um abstrakte Quadratkilometer geht, sondern um ihr Land und ihre Landsleute, die dort leben und unter der russischen Besatzung unsägliches Leid erfahren. Auch das übrige Medienvokabular verfestigt diese verzerrte Wahrnehmung. Deswegen kämpfen ukrainische Aktivistinnen in Deutschland seit langem selbst gegen den Begriff «Ukraine-Krieg». Auch wenn er den deutschsprachigen Gepflogenheiten der Kriegsbenennung entspricht, verschiebt er den Fokus vom Aggressor auf das Opfer und macht es zum Protagonisten des Geschehens.
Zu diesem Vokabular passt auch der geradezu freudsche Übersetzungsfehler, den der «Spiegel» kürzlich in einem Interview mit Selenski machte. Es stand dort, dieser «zwinge» den Bundeskanzler Scholz, der Ukraine zu helfen, dabei sagte Selenski, er müsse Druck machen und Scholz ständig davon überzeugen, dass diese Hilfe eigentlich für Europa sei. Der «Spiegel» hat den Fehler korrigiert, aber zuvor hatte der Satz für einen Aufschrei gesorgt, weil er so gut in die Erzählung vom undankbaren Drängler passt, der ungerechtfertigte Ansprüche an Deutschland und die Welt stellt.
Der amerikanische Anthropologe David Graeber schrieb in seinem 2011 erschienenen Buch «Schulden», dass wir das Bitten und Danken gleichzeitig als bedeutungslose Formalitäten und als die moralische Grundlage der Gesellschaft betrachteten. Die kleinbürgerliche Gesellschaft erwartet, dass man sich immer bedankt. Laut Graeber signalisiert man damit, dass man sich nichts schuldet. Man tut so, als gebe es keine Verpflichtung zu helfen, und sei es nur, das Salz am Tisch zu reichen. Doch in Gemeinschaften, wo gegenseitige Hilfe die Norm ist, wirkt zu viel Dankbarkeit beleidigend: «Will man mir damit sagen, dass man mir zutraut, Hilfe zu verweigern?» Damit man ohne überschwängliche Dankbarkeitsrituale auskommt, muss man sich aber als Teil des gemeinsamen Ganzen fühlen. Zum deutschen Ganzen, zum gefühlten Europa gehört – anders als der sprichwörtliche «Nachbar Russland» – die Ukraine definitiv nicht.
In den Reden, die Selenski im Vereinigten Königreich und in den USA hält, konstruiert er vor allem ein gemeinsames «Wir»: ein «Wir», das für die Freiheit, die Menschenwürde und die hohen Ideale der Demokratie kämpft. In Deutschland kommt man mit dieser Rhetorik nicht weit. Daher müssen Selenski und alle anderen, die für die Ukraine sprechen, die Deutschen von ihrer Nützlichkeit überzeugen.
In Polen oder im Baltikum ist die Feststellung, dass die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch Europa verteidigt, eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland dagegen wirkt sie wie eine Frechheit – oder eben Zwang. Ohne die «flehenden Auftritte» Selenskis hätte die Ukraine wohl kaum so viel Militärhilfe in relativ kurzer Zeit erhalten, schrieb der diplomatische Korrespondent des «Tagesspiegels» Christoph von Marschall und brachte es eigentlich auf den Punkt.
Der Schmerz der Russen
Was man allerdings von der Ukraine in Deutschland im Gegenzug erwartet, ist mehr als blosse Dankbarkeit. Sie muss ihre Existenz ständig rechtfertigen und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die sie dadurch verursacht. Wenn Russland Territorien verliert, die es für seine eigenen hält, bringt man in Deutschland erstaunlich viel Verständnis für den Schmerz der Russen auf, Völkerrecht hin oder her. Wenn die Ukraine ihre Territorien verteidigt, dann ist sie es, die den Schmerz verursacht.
Jeden Tag sterben Hunderte russischer Soldaten in der Ukraine, und in Deutschland gibt es nicht wenige, welche die Ukraine für deren Tod mitverantwortlich machen. So wie der Publizist Jakob Augstein. Im Oktober letzten Jahres, sieben Monate nach dem Bekanntwerden der russischen Greueltaten von Butscha, sagte er im Gespräch mit der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk, wie gut es gewesen sei, dass die Leute nicht auf die Idee gekommen seien, Paris militärisch gegen die Deutschen zu verteidigen. So sei es intakt geblieben. Deutsche Besatzung, so der Unterton, war gar nicht so schlecht, die russische kann auch nicht so schlimm sein. Doch die Ukrainer nähmen lieber die Toten, egal ob Russen oder Ukrainer, in Kauf.
Der wohl bisher denkwürdigste Beitrag zur Waffenlieferungsdebatte kam im Deutschlandfunk. Anlässlich der Leopard-Zusage des Kanzlers interviewte der Sender einen Panzersoldaten der Wehrmacht, die im Dienste des NS-Regimes kämpfte. Der 96-Jährige, der nach dem Krieg zum Pazifisten wurde, erzählt, er habe viel Angst im Panzer gehabt und als Kriegsgefangener fürchterliche Zerstörungen in der Ukraine gesehen, deshalb glaube er an Verhandlungen und lehne Waffenlieferungen ab.
Sicherlich wäre es angemessener, jemanden zu befragen, der in einem Verteidigungs- oder Befreiungskrieg gekämpft hat, doch Deutschland hat zu Lebzeiten seiner Bürger keine solche Kriege geführt. Darum fällt es der deutschen Öffentlichkeit ausgesprochen schwer, einen Krieg nicht aus der Perspektive der Täter zu betrachten. Dass Deutschland nun auf der Seite derjenigen steht, die sich verteidigen, ist eine neue, noch zu verarbeitende Erfahrung. Ausserirdische für Ufos zu bezahlen, wäre bei weitem nicht so anstrengend.