Was die deutschen Friedensstifter nicht kapieren
- Nikolai Klimeniouk
- 23. Apr. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Feb. 2024
Die Stadt Osnabrück verleiht den Remarque-Preis an die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja und den ukrainischen Illustrator Sergiy Maidukov. Die Verleihung ist als Versöhnungsgeste gedacht. Welche Zumutung das für Maidukov ist, hat die Jury nicht bedacht.
Veröffentlicht in: FAZ, 23.04.2023. English traslation. Traduction en français.

Die Stadt Osnabrück zeichnet den ukrainischen Künstler Sergiy Maidukov mit dem Erich-Maria-Remarque-Preis aus. Sie vollzieht dies in einer Weise, dass der Ausgezeichnete sich offensichtlich eher angegriffen und missbraucht als geehrt fühlt. Ukrainische Medien kommentieren die Angelegenheit mit der Anmerkung „typisch Deutschland“.
Der Preis wird nämlich an Maidukov und an die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja verliehen. „Das letzte Wort muss die Sprache der Humanität haben, die auch Menschen verfeindeter Staaten verbindet“, begründet die Juryvorsitzende und Präsidentin der Universität Osnabrück, Susanne Menzel-Riedl, die Entscheidung. Ulitzkaja sagte, die Auszeichnung sei das schönste Geschenk zu ihrem achtzigsten Geburtstag.
Maidukov, 42 schrieb zuerst an die Jury, er werde nicht zur Verleihung kommen: „Da ich mich um meine Psyche sorge, vermeide ich schwierige Gefühle in diesen Zeiten. Ich habe bisher genug russische Präsenz in meinem Leben, also würde ich nur an einem anderen Tag als der Zeremonie kommen.“ Im ersten Schreiben, das auf der Webseite des Preises zitiert wird, sagte er noch, es wäre eine Ehre, den Preis persönlich entgegenzunehmen. Schließlich entschied er, gar nicht nach Osnabrück zu reisen.
Der Eklat war vorprogrammiert, schließlich war die Jury-Entscheidung einer von vielen Versuchen der wohlmeinenden deutschen Öffentlichkeit, ukrainische Künstler und Intellektuelle zum Versöhnungsdialog auf eine Bühne mit Russen zu locken. Das ist grundsätzlich keine gute Idee, auch wenn diese Russen ausgewiesene Gegner des Putin-Regimes sind. Damit wird suggeriert, es gäbe so etwas wie eine geteilte Erfahrung, und das ukrainische wie das russische Volk seien gleichermaßen Opfer des Putin-Regimes. Das relativiert die Aggression und lenkt von der Mitverantwortung der russischen Gesellschaft für den Krieg, aber auch für die Missstände im eigenen Land ab.
Die bisherigen Versuche, einen solchen Dialog zu initiieren, scheiterten nicht zuletzt daran, dass die russischen Sprecher sich vor allem um das Leid in Russland und nicht um die Zerstörung der Ukraine sorgten oder sich gar als Opfer inszenierten: des eigenen Regimes, des gleichgültigen Westens oder gar der militanten und unsolidarischen Ukrainer. Die deutschen Friedensstifter gehen fälschlicherweise davon aus, dass der Dialog ohne ihre Vermittlung gar nicht stattfinden kann. Tatsächlich wird er kontinuierlich geführt, nicht nur privat, sondern auch öffentlich in sozialen Netzwerken. Und dort stößt man nicht selten auf Kommentare wie diesen, den die berühmte russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann in einer Diskussion über Russlands Verantwortung gegenüber der Ukraine auf Facebook gemacht hat und der gerade für große Aufregung sorgt: "Das Haus unseres Nachbarn ist abgebrannt und bei uns ist die Kanalisation geplatzt. Jeder glaubt, dass seine Tränen die salzigsten sind. Nur ist es klar, dass das Haus unseres Nachbarn die ganze Welt reparieren wird, uns aber verbietet man sogar, Reparaturen zu planen, und sagt, das sei bei uns schon immer so gewesen, und überhaupt, müssten wir uns erst einmal damit befassen, woher das alles kommt, was da bei uns auf dem Boden schwimmt". Schulmann hält sich gegenwärtig in Berlin auf, sie ist Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy und eine gefragte Rednerin, auch zum Thema Verantwortung.
Gewiss reden nicht alle russischen Regimekritiker so wie Ekaterina Schulmann. Aber es ist nicht die Aufgabe ukrainischer Intellektueller und Künstler, ihre potenziellen russischen Gesprächspartner auf deren Haltung zum Krieg und zur Ukraine hin zu überprüfen. Sie haben aus bitterer Erfahrung gelernt, jederzeit mit solchen Äußerungen zu rechnen, und wollen sie nicht durch ihre Teilnahme am Gespräch legitimieren. Wenn sie zu Diskussionsforen mit russischen Teilnehmern eingeladen werden, lehnen sie meistens im Stillen ab. Diesen Luxus haben sie nicht, wenn man ihnen einen Preis verleihen will. So musste die ukrainische Journalistin Oxana Romaniuk im Dezember auf den Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit verzichten, den sie gemeinsam mit dem umstrittenen russischen Journalisten Alexei Wenediktow erhielt. Sie könne sich nicht vorstellen, schrieb sie auf Facebook, physisch auf einer Bühne mit einem Hofliberalen des Kremls zu stehen, der wiederholt Kreml-Propaganda verbreite und Putin seinen "einzigen Chef" genannt habe.
Bezeichnenderweise sind es die Ukrainer, und nicht die Russen, die auf Preise oder Auftritte verzichten, und dann stehen sie noch als aggressive Querulanten da. Die russische Propaganda greift solche Fälle gerne auf. Der Hetzsender „Zargrad“ berichtete zum Beispiel, der Künstler Maidukov lehne den Remarque-Preis aus „Russophobie“ ab. Die Auszeichnungen geben auch Anlass, die russischen Preisträger noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und beispielsweise an Ulitzkajas Äußerungen zu erinnern, Russland führe den Krieg gegen sich selbst, die Grenze zwischen Russen und Ukrainern sei schwer zu ziehen.
Manchmal wird die Grenze jedoch sehr scharf gezogen. Es habe einen komischen Beigeschmack, twitterte die Osteuropa-Expertin Franziska Davies, dass Ulitzkaja den Hauptpreis von 25 000 Euro bekommt und Maidukov den "Sonderpreis" von 5000 Euro. Es sei aber bezeichnend: die "große" russische Literatin, der "kleine" ukrainische Künstler. Die Versöhnungsversuche nannte sie unsensibel und etwas penetrant.
Unsensibel sind sie allemal, auch deswegen, weil gemeinsame Auftritte mit Russen in der Ukraine sehr negativ aufgenommen werden. Im September letzten Jahres wurde der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, eine der Schlüsselfiguren der ukrainischen Gegenwartskultur, von einem Empörungstsunami nach einer Podiumsdiskussion mit seinem russischen Kollegen Mikhail Schischkin bei einem Festival in Norwegen erfasst. Dabei lebt Schischkin seit über zwanzig Jahren in der Schweiz und hat einen makellosen Ruf, auch in der Ukraine. Wochenlang wurde darüber debattiert, ob solche Auftritte während des Krieges überhaupt zulässig seien. Eine ähnliche Debatte löste die Verleihung des Friedensnobelpreises an Menschenrechtler aus der Ukraine, Russland und Belarus aus. Man sah darin nicht nur die Manifestation der russisch-imperialen Sichtweise, dass die drei „Brüdervölker“ eine Einheit bildeten, sondern auch eine Abwertung der ukrainischen Demokratie: Schließlich ist es nicht dasselbe, die Menschenrechte in einer Demokratie oder in Diktaturen zu verteidigen.
Den Eindruck, dass die Ukraine als Demokratie nicht ernst genommen wird, bestätigten jüngst die Organisatoren einer Veranstaltung in Berlin, die Teilnehmende aus Russland, Belarus und der Ukraine auf eine Bühne bringen wollten. Man halte es für sinnvoll, dass sich oppositionelle Kräfte, die vor Diktatur und Krieg ins Ausland geflohen seien, austauschten, hieß es in der Einladung. So tragisch die Situationen in den drei Ländern auch sind, so unterschiedlich sind sie aber im Kern. Die Opposition in der Ukraine ist kein Widerstand, sondern selbstverständlicher Teil der politischen Normalität. Und die einzige Fluchtursache ist der russische Angriffskrieg, der alle Menschen in der Ukraine völlig unabhängig von ihrer politischen Gesinnung trifft. Die Ukrainer kämpfen auch nicht gegen den Krieg, sondern verteidigen sich gegen Russland oder unterstützen dabei ihre Streitkräfte. So wie Sergiy Maidukov, der das Geld für seinen Remarque-Friedenspreis auf ein Spendenkonto für Armeeautos überweisen lässt. Ulitzkaja kann ebenfalls zum Frieden beitragen, indem sie ihr Preisgeld auf ein solches Konto einzahlt.