Der Gefangenenaustausch war ethisch problematisch und politisch katastrophal. Veröffentlicht in: NZZ, 10.08.2024
Der Gefangenenaustausch zwischen Russland, Belarus und fünf westlichen Demokratien war auch deshalb spektakulär, weil sich unter den Ausgetauschten zwar mehrere Russen befanden, aber kein einziger in Russland inhaftierter Ukrainer, nicht der Menschenrechtler Maxym Butkewytsch, nicht einer der vielen krimtatarischen Aktivisten, die Russland routinemässig zu islamistischen Terroristen erklärt. Auch kein einziger politischer Gefangener aus Belarus war dabei. Es fehlte auch ein Häftling, auf dessen Freilassung viele gehofft hatten, die aber nicht mehr möglich war: Alexei Nawalny. Er starb im Februar in einer Strafkolonie, höchstwahrscheinlich wurde er ermordet. Die Figur Nawalnys ist der Schlüssel, um die Hintergründe des Austauschs zu verstehen und auch den Umstand, warum der Deal ethisch problematisch und politisch katastrophal war.
Initiiert wurde der Austausch, der komplexe multilaterale Absprachen erforderte, von Nawalnys Mitstreiterin Maria Pewtschich. So erzählt sie es zumindest selbst. Die Idee sei ihr und dem investigativen Journalisten Christo Grosew im Januar 2022 bei einem Spaziergang in Los Angeles gekommen, sagte sie der «New York Times». Sie hätten ihre Kontakte spielen lassen, um ihren Plan an die US-Regierung heranzutragen.
Glaubensbekenntnis unter russischen Oppositionellen
Damit begann der lange Prozess, an dessen Ende die Freilassung Nawalnys stehen sollte. Dabei war es Nawalnys eigene Entscheidung, sich in die Hände Putins zu begeben. Im Januar 2021, nach dem Giftanschlag und der Behandlung in Deutschland, kehrte er nach Russland zurück und wurde noch am Flughafen festgenommen. Zuvor hatte er in mehreren Interviews beteuert, er sei sich der Gefahr bewusst, ein Leben im Exil sei aber für ihn nicht möglich, politische Arbeit vom Ausland aus ergebe keinen Sinn.
Diese Formel ist eine Art Glaubensbekenntnis unter russischen Oppositionellen. Der im Austausch freigelassene Politiker Wladimir Kara-Mursa reiste im Frühjahr 2022 ebenfalls trotz allen Warnungen nach Russland, wurde dort prompt verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Auch der Oppositionelle Ilja Jaschin kam durch den Austausch frei. Obwohl ihm mehrfach zur Emigration geraten wurde, entschied er sich 2022 dagegen, machte seine Entscheidung öffentlich, wurde inhaftiert und erklärte aus der Haft heraus, er wolle niemals ausgetauscht werden, er müsse als russischer Politiker in Russland sein, und sei es im Gefängnis.
Die Geheimdienstforscher Andrei Soldatov und Irina Borogan zeigen in ihrem 2019 erschienenen Buch «The Compatriots» (Die Landsleute), wie die Sowjetunion seit den 1920er Jahren jede politische Tätigkeit der russischen Exilanten konsequent bekämpfte. Die Geheimdienste infiltrierten ihre Organisationen, entführten und ermordeten einflussreiche Figuren, währenddessen zeichnete die Propaganda ein Bild der Emigranten als verachtungswürdige Verräter, gescheiterte Existenzen, die ohne Russland nicht leben können.
Die sowjetischen Machthaber hatten allen Grund, die Diaspora zu fürchten: Schliesslich agierten die Bolschewiki im Exil selbst so erfolgreich, dass sie in Russland mit ihrer Agitation viele Anhänger gewinnen und die Macht ergreifen konnten. Die Taktik der politischen Neutralisierung der Exilanten durch geheimdienstliche Massnahmen und Propaganda wurde nach dem Ende der UdSSR fortgesetzt und sogar intensiviert. Das negative Bild der jämmerlichen, politisch irrelevanten Emigranten wurde selbst von den Oppositionellen verinnerlicht.
Eine der zentralen Figuren des Buches ist Wladimir Kara-Mursa, sein Foto ist sogar auf dem Cover der englischen Erstausgabe. 2015 und 2017 wurden auf ihn in Russland Nervengift-Anschläge verübt, die er nur knapp überlebte. Im letzten Kapitel wird er mit den Worten zitiert: «Ich glaube nicht, dass ich das Recht hätte, weiterhin Politik zu machen, die Menschen zum Handeln aufzurufen, wenn ich irgendwo anders in Sicherheit sässe.»
Romantische Heimatschwärmerei
Generationen sowjetischer und russischer Bürger wurden von den ideologisch aufgeladenen Heldenbildern und Interpretationen klassischer Literatur indoktriniert. Kommandeure, die ihre Soldaten mit der Pistole in der Hand zum Angriff führen. Soldaten, die sich vor die Schiessscharte eines Schützenbunkers werfen. Abgeschossene Piloten, die ihre Flugzeuge auf feindliche Truppen lenken. Kommunistische Märtyrer, die christlichen Heiligen nachempfunden sind. Romantische Heimatschwärmerei und bedingungslose Vaterlandsliebe.
Russlands offizielle Ideologie pocht auf vermeintlich traditionelle Werte. Die russische Opposition gibt sich liberal, modern, zeigt aber nur andere Facetten dieser archaischen Weltsicht. Und nun, so scheint es, zwingt sie diese Archaik der westlichen Welt auf.
Das Wort «zwingen» stammt von Maria Pewtschich, sie benutzt es mehrmals in ihrem Interview mit dem russischen Exilsender Doschd: Die USA, sagt sie, hätten die europäischen Länder zwingen müssen, am Austausch teilzunehmen. Irgendwann sei der Verhandlungsprozess zum Stillstand gekommen, im Protokoll eines Treffens deutscher und amerikanischer Diplomaten habe gestanden, dass Deutschland gegen den Austausch sei und die USA kein besonderes Interesse daran hätten. Da habe man einen deutschen Beamten zwingen müssen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Als Pewtschich im Januar 2022 ihre Lobbyarbeit für die Freilassung Nawalnys begann, gab es in Russland keine hochkarätigen US-Geiseln, dafür sass der Waffenhändler Viktor Bout in einem amerikanischen Gefängnis. Im Februar nahm Russland eine solche Geisel, die Basketballspielerin Brittney Griner. Sie wurde wegen des Besitzes einer kleinen Menge Cannabisöl zu 9 Jahren Haft verurteilt und im Dezember 2022 gegen Bout ausgetauscht. Der für den Kreml wertvollste Häftling im Westen war nun Wadim Krasikow, ein Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB. Er hatte 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin den ehemaligen georgischen Geheimdienstler Selimchan Changoschwili erschossen und wurde dafür zu lebenslanger Haft verurteilt.
Changoschwili war georgischer Bürger und ethnischer Tschetschene. Nawalny hat sich im Laufe seiner politischen Karriere oft abfällig über Tschetschenen und Kaukasier im Allgemeinen geäussert, vor allem in seinen Jahren als strammer Nationalist. Unter regimekritischen Russen gelten diese Äusserungen als längst verjährte Jugendsünden. 2006 bemerkte Nawalny in einer Online-Diskussion beiläufig, man solle den tschetschenischen Exilpolitiker Achmed Sakajew umbringen. Genau das tat Krasikow mit einem anderen Exiltschetschenen, Changoschwili.
Doch selbst der ethisch fragwürdige Plan, Nawalny gegen Krasikow auszutauschen, führte nicht zu Nawalnys Freilassung. Im Wettkampf der Zyniker ist Putin immer der Sieger. Pewtschich sieht das jetzt ein: Für Putin war es nie eine Option, Nawalny laufen zu lassen. Dabei war die Rettung Nawalnys wohl einer der wichtigsten Beweggründe für Deutschland, der Herausgabe Krasikows zuzustimmen.
Als die Verhandlungen schon so weit fortgeschritten waren, dass es kein Zurück mehr gab, wurde Nawalny ermordet. Der Austausch forderte auch Kollateralschäden: Die 16-jährige Haftstrafe für den amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich und die 4-jährige Strafe für den deutschen Teenager Kevin Lick in Russland sowie das Todesurteil für den Deutschen Rico Krieger in Belarus sollten den Druck auf die USA und Deutschland zusätzlich erhöhen.
Bittere Bilanz
Nun, da der Austausch vollzogen ist, wird er hier gerne als moralischer Sieg des Westens interpretiert: Wir haben böse Russen nach Russland geschickt und einigen guten das Leben gerettet. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass alle ausgetauschten russischen Bürger zu Unrecht einsassen, und dass sie nun frei sind, ist eine gute Sache. Dennoch ist die Bilanz des Austausches bitter.
Die russischen Politiker, für die es wichtig war, um jeden Preis in Russland zu bleiben, weil sie sich sonst nicht einmal selbst ernst nehmen konnten, wurden gegen russische Agenten ausgetauscht und so als Agenten des Westens dargestellt. Der Welt wurde vorgeführt, dass die Ukrainer keine Priorität sind, die Belarussen vergessengehen und die europäischen Länder nach amerikanischer Pfeife tanzten. So lieferte Polen einen russischen Agenten aus, konnte aber den belarussisch-polnischen Journalisten Andrzej Poczobut nicht freibekommen. Deutschland gab einen verurteilten Mörder heraus, während Putin keinen einzigen für ihn gefährlichen Gefangenen befreite.
Bei einem Treffen mit russischen Exilanten in Berlin versprach Ilja Jaschin, sich für die Freilassung der politischen Gefangenen in Russland einzusetzen. Bisher bestanden solche Bemühungen vor allem darin, den Westen zu Verhandlungen mit Putin zu «zwingen». Und das sollte die wichtigste Lehre aus diesem Austausch sein: Wenn man mit Putin verhandelt, wird man immer hereingelegt.