Wir sind kein Menschenrechtsverein
- Nikolai Klimeniouk
- 12. Nov. 2017
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Der Regisseur Kirill Serebrennikow steht in Russland unter Hausarrest. Jetzt deutet alles darauf hin, dass die russische Filiale der Korruptionsbekämpfer von Transparency International daran nicht unschuldig ist.
Veröffentlicht in: FAS, 12.11.2017

Ich war bei der Post, um ein Päckchen ins Gefängnis zu schicken. Stell dir vor, man muss das Geburtsdatum des Empfängers draufschreiben. Dort habe ich von Sofia Apfelbaums Verhaftung erfahren. Ein Fernsehsender hat mich angerufen und wollte einen Kommentar.“
Das erzählt die Theaterkritikerin und Produzentin Jelena Kowalskaja; so sieht jetzt ihr Alltag aus. Der Empfänger des Päckchens, Alexej Malobrodskij, war früher Direktor des Moskauer Theaters Gogol-Center; seit Juni sitzt er in der U-Haft. Sofia Apfelbaum, die am 26. Oktober festgenommen und anschließend unter Hausarrest gestellt wurde, war Direktorin des staatlichen Jugendtheaters und davor Mitarbeiterin des Kulturministeriums, zuständig für Theaterförderung. Beide Verhaftungen sind Kollateralschäden der staatlichen Kampagne gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow; der steht auch unter Hausarrest, sein Besitz wurde beschlagnahmt. Die unter Hausarrest haben es besser, erzählt Kowalskaja, aber sie dürfen gar keine Sendungen empfangen, man kann an sie keinen Brief schicken, keine Tafel Schokolade.
Anklage durch Korruptionsbekämpfer
Serebrennikow wird seit Jahren von Vertretern des Staats und der Kirche alles Mögliche unterstellt: er verunstalte die Klassik, verunglimpfe die Kirche, verfälsche die Geschichte (gemeint ist Stalin-Kritik), propagiere Sex und Sodomie, so nennt man Homosexualität in Russlands konservativen Kreisen. Jetzt wird ihm und seinen Kollegen von den Ermittlungsbehörden vorgeworfen, staatliche Zuwendungen veruntreut zu haben. Laut Anklage habe eine vom Kulturministerium subventionierte Inszenierung nie stattgefunden, dabei läuft sie mit großem Erfolg seit fünf Jahren.
Und nun stellte sich heraus, dass die Vorlage für die Anklage möglicherweise von der Antikorruptions-NGO Transparency International Russia (TI-R) geliefert wurde, dem russischen Ableger der gleichnamigen internationalen NGO mit Hauptquartier in Berlin. Im Januar wandte sich TI-R an die Staatsanwaltschaft mit dem Antrag, die Rechtmäßigkeit von Serebrennikows Verträgen mit seinem Theater, dem Gogol-Center, zu überprüfen. Das war ein Teil der großen, vom Berliner Sekretariat von Transparency International finanzierten Recherche, deren Ergebnisse TI-R am 23. Oktober veröffentlichte. Der Bericht heißt „Wie die Leiter von staatlichen Theatern sich selbst bezahlen“. Die Rechercheure untersuchten alle 135 staatlich subventionierten Theater von Moskau und Sankt Petersburg, entdeckten ihrer Ansicht nach verdächtige Verträge in vierzehn davon und erstatteten Anzeigen.
Das Honorar ist der Knackpunkt
Die Staatsanwaltschaft bestätigte Verstöße gegen das Gesetz in zwei Fällen: beim Leiter des staatlichen Katzenzirkus, Jurij Kuklatschow, der einen Lagerraum von seinem Sohn gemietet haben soll. Und bei Serebrennikow – er habe Honorare für seine Inszenierungen erhalten. Dennoch wird im Bericht behauptet, alle vierzehn Theaterchefs hätten für sich künstlich zusätzliche Verdienstmöglichkeiten geschaffen, ihre Talente sollen nicht davon ablenken, dass sie, so der Bericht, staatliche Unternehmen leiten, die vom Steuerzahler finanziert werden. Zwei dieser Chefs können sich zu den Vorwürfen nicht äußern: Der eine darf nicht, der andere ist seit drei Monaten tot.
Beim Gogol-Center beträgt der Anteil der staatlichen Finanzierung 33 Prozent, der niedrigste von allen untersuchten Theatern, insgesamt umgerechnet 1,14 Millionen Euro im Jahr. Von allen Theatern in Moskau hat das Gogol-Center die meisten Premieren pro Saison, im Durchschnitt zwölf, ganz zu schweigen von all den Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Konzerten. Die Honorare des Starregisseurs Serebrennikow betrugen knapp 4700 Euro pro Inszenierung. Wer die Branche kennt, lacht sich kaputt über diese Summe. Doch die Experten von TI-R kennen nach eigener Auskunft die Branche nicht, sie hielten es für unnötig, deren Eigenart zu berücksichtigen; sie haben sich auch keinen Rat von Fachleuten geholt. Das Einzige, was sie interessierte, war die Tatsache, dass Serebrennikow sein Honorar als selbständiger Unternehmer dem Theater in Rechnung stellte.
Spenden werden zu öffentlichen Ausgaben
Wer wiederum die Branche kennt, würde sofort verstehen, wie es dazu gekommen ist. Seit Anfang der 2000er Jahre beschweren sich Theatermanager und Experten darüber, dass die geltende Gesetzgebung zur Kontrolle von öffentlichen Ausgaben den normalen Betrieb von Theatern erschwert und deren Leiter zur kreativen Buchhaltung zwingt, weil es gar nicht anders geht. Diese Kritik wurde schon öfter in der Fachpresse und im Parlament geäußert und ist fast schon eine Pflichtfloskel in Interviews von Regisseuren. Die Gesetzänderung von 2013 hat die Lage nicht verbessert.
So müssen zum Beispiel private Spenden und eigene Einnahmen der Theater erst in die Staatskasse eingezahlt werden, damit sehen sie auf dem Papier immer wie öffentliche Ausgaben aus. Und für Ausgaben über 1300 Euro, sei es auch Bühnenbild oder Gage, muss es eine öffentliche Ausschreibung geben, als ob man Schauspieler und Kostüme wie Büroklammern bestellt. Das sind nur zwei von ungezählten Absurditäten. Man ist sich in der Branche einig: Die Gesetze werden absichtlich nicht geändert, damit der Staat die Theater an der kurzen Leine halten kann.
Der Staat betreibt Rufmord
Die russische Verfassung verbietet ausdrücklich die Zensur, deswegen werden die Kunst- und Meinungsfreiheit vom Staat mit indirekten Mitteln eingeschränkt. Dafür wurde in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet: zum Schutz der Gläubigen, zum Schutz der Jugend vor schädigenden Informationen (dazu gehören „Propaganda“ – de facto bloße Erwähnung – von Homosexualität, Suizid und Drogen), gegen Extremismus, Separatismus, Verleumdung und Geschichtsfälschung. Besonders beliebt beim Staat sind der wirtschaftliche Druck und Kriminalisierung von ganz normalen Geschäftsabläufen, weil sie die Stummschaltung unliebsamer Figuren ganz unpolitisch darstellen lassen, als wären diese bloß Schwindler und Diebe.
Genau auf diese Weise orchestriert der Staat den Rufmord von Serebrennikow und die Verunglimpfung der gesamten Theaterbranche. Daran beteiligten sich die unabhängigen Korruptionsforscher von TI-R, selbst wenn man keinen Zusammenhang zwischen Anzeige und dem Strafverfahren nachweisen kann. Erwartungsgemäß hat die Veröffentlichung des Berichts eine Welle von Kritik ausgelöst, mit ethischen wie fachlichen Einwänden, doch erst die Reaktion der Mitarbeiter von TI-R darauf, in Interviews, Stellungnahmen und in Sozialen Netzwerken, zeigte, dass das Problem viel größer ist, als das Versagen von nur einer Institution.
Die Menschenrechte spielen kaum noch eine Rolle
Ein Theater unterscheide sich im Prinzip nicht von einem Busdepot, betont der Geschäftsführer von TI-R, Anton Pominow, und bekommt Zustimmung von vielen prominenten Figuren aus der Zivilgesellschaft. „Sie können doch nur eins machen, die Leute belustigen, Sie würden sich für die staatliche Finanzierung umbringen“, schreibt auf Facebook ein TI-R-Mitarbeiter dem Regisseur Michail Ugarow, dessen Doku-Theater schon lange unter massivem politischem Druck steht und keine Kopeke vom Staat bekommt. „Wir sind kein Menschenrechtsverein“, behauptet der PR-Chef von TI-R Gleb Gawrisch, „es ist nicht unsere Aufgabe, die Interessen des Regisseurs Serebrennikow zu verteidigen.“
Hier offenbart sich eines der zentralen Probleme der russischen Zivilgesellschaft: Die Menschenrechtsagenda wurde weitgehend von der Korruptionsbekämpfung verdrängt, sie wird sogar als eine Behinderung angesehen. Die verächtliche Haltung gegenüber den Menschenrechten und die aggressive, selbstgefällige Kulturfeindlichkeit passen sehr gut zusammen, schließlich ist die Schaffensfreiheit auch nur ein Menschenrecht. So ist es nicht überraschend, dass die Mitarbeiter von TI-R die Theater und generell die Kultur ähnlich betrachten, wie das der nationalkonservative russische Kulturminister Wladimir Medinskij tut: als einen Dienstleister. Der Bericht von TI-R enthält Vorschläge zur Verbesserung der Lage: Man solle die Überwachung von Ausgaben ausweiten und mehr Vollmachten den Kontrollgremien des Kulturministeriums geben.
Die Qualität der Gesetze interessiert nicht
„Wir befolgen alle Gesetze, und nicht nur die, die Ihnen gefallen“, sagt der Pressesprecher von TI-R Artjom Jefimow, als wäre es die ureigenste Aufgabe einer NGO, die Einhaltung von Gesetzen zu überwachen, erst recht solcher, die in einem autoritären Staat von einem nicht legitimen Parlament verabschiedet wurden. Die Qualität der Gesetze, sagt man bei TI-R, analysieren sie nicht. Zwischen Korruption und absichtlich provozierten Regelverstößen wollen sie nicht unterscheiden.
Ob die öffentlichen Ausgaben berechtigt sind, geht sie nichts an. Dass der russische Staat einen Katzenzirkus finanziert oder ein Pop-Musik-Theater, finden sie in Ordnung, solange das Papierwerk stimmt. Dass die Staatsförderung in einigen Fällen nur durch Regimetreue zu erklären ist, lassen sie außer Acht. Was man beim Berliner Sekretariat von Transparency International davon hält, ist nicht bekannt: Die Anfrage dieser Zeitung ließ man dort ohne Antwort.